Sonntag, 22. März 2009

Wen hua 文化 - Culture II


Letzthin stand ich an einem Bankomaten, an dem ich üblicherweise Geld hole, und wollte wie gewohnt diesen Vorgang wiederholen. Da gab es aber auf einmal keine Taste oder Aufforderung zum Geldabheben mehr. Ich habe es mehrmals versucht und sogar schon daran zu zweifeln begonnen, dass es überhaupt irgendwann so eine Taste gegeben hatte. Nichts. 
Das war das erste Mal, wo ich bewusst ein westliches technisches System mit asiatisch kultureller Anpassung erfahren habe. Wo bei uns der Benutzer schon von weitem darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Automat heute aus irgendeinem Grund kein Geld ausspucken wird, möchte man hier den Kunden nicht davon abhalten, es zu probieren, wenn er doch unbedingt möchte.
So würde einem hier auch niemand sagen, dass man da und da nicht hingehen soll, weil es da das, was man sucht, gar nicht gibt. Wenn das Gegenüber doch unbedingt dahin möchte, will man dem auf keinen Fall im Weg stehen. 
Ist das denn schon Ausdruck eines kulturellen Unterschieds? Wie lassen sich kulturelle Differenzen erfassen, charakterisieren? Was versteht man denn eigentlich unter dem Begriff "Kultur"? Das, was seit Jahrhunderten (oder gar Jahrtausenden) in einem Volk überliefert ist? Was man tagtäglich um sich herum sieht? Was die Mehrheit des Volkes ausmacht? Was der herrschende Adel sich einst geleistet hat? Oder was die intellektuelle Elite und die sogenannten Kulturschaffenden als solche legitimiert?
Je nachdem fällt das Urteil anders aus. Hier in China ganz besonders.
Momentan läuft in Guangzhou (und wahrscheinlich auch anderswo) eine grosse Werbeaktion mit der Parole "创建全国文明成市 = chuang jian quan guo wen ming cheng shi". Was mehr oder weniger heisst "Lasst uns im ganzen Land unsere Städte zivilisieren!".
Da wird es doch spannend, was denn die Chinesen nun unter "文明 wen ming = Zivilisation" verstehen. Kein Spucken, kein Drängeln, Schwangeren den Platz im Bus freimachen...? Das käme ja unseren westlichen Ansprüchen durchaus entgegen. Oder ist da ebenso gemeint "nicht widersprechen", "Vorbilder möglichst gut kopieren", "hart arbeiten und Reichtum aufbauen"? Was hingegen in gewisser Hinsicht durchaus auch den traditionellen chinesischen Idealen entspräche, zumindest laut heutigem Volksmund und Regierungspropaganda.
Das Aufbauen materiellen Wohlstandes wiederum könnte man durchaus auch als Leitbild der westlichen "Kultur" verstehen. Wobei sich dann die obengenannten Kulturschaffenden und Intellektuellen sicher zu Wort melden würden (eben widersprechen würden), dass das doch noch lange keine Kultur ausmacht. Aber auch im Chinesischen wird diese Art von Kultur nicht als 文明 bezeichnet, sondern als "文化 = wen hua". Und als Leute, die 文化 haben, bezeichnet man solche, welche sich eben in den traditionellen Werten, aber auch Künsten, literarischen Werken und "Wissenschaften" auskennen. Eben Gebildete, aber auf chinesische Art. Was aber nicht unbedingt heissen muss, dass sie sich nicht auch für andere Kulturen interessieren können. Aber eben nicht Intellektuelle im westlichen Sinne. 
Aber was hat denn das alles mit den Bankautomaten zu tun?
Wichtig wird das genaue Artikulieren, Erfassen, ja Quantifizieren der kulturellen Unterschiede, wenn man neue Systeme einführen will. Seien es eben vorprogrammierte Bankomaten, neue Produkte oder auch Managementsysteme. Wichtig ist es aber auch, wenn man fundierte Kritik an diesem Land anbringen will. Eben dann müsste man sich mit diesen verschiedenen Interpretationen von Kultur und 文化,文明 und Zivilisation ausandersetzen.
In Betracht zu ziehen ist im Fall von China aber nicht nur die Differenz der Kulturen, sondern fast stärker noch die Absenz von Kultur. Teils bedingt durch die durch das eigene Volk verursachte Zerstörung der Kultur, teils durch den wirtschaftlichen Entwicklungsstatus des Landes. Wer ums Überleben oder zumindest um die bessere Zukunft seiner Kinder kämpft, hat mit Kultur und Werten meist wenig am Hut. 
Das ist die Zweischneidigkeit des Schwerts. Einerseits kann man den grossen Anteil der kulturlosen Bevölkerung so formen, wie man es möchte, sei es zu guten Konsumenten von (westlichen) Produkten, sei es zu hörigen Anhängern des Systems, der Partei. Andererseits erleidet aber gerade die Spannung zwischen den Kulturen, das Spannende der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und der eigenen, einen enormen Verlust. Das macht es für China dann auch schwer, wenn nicht gar unmöglich, einen wirklich eigenen, in sich schlüssigen Weg zu gehen. Einen Weg, der unserer Kultur so völlig entgegengesetzte Alternativen aufzeigt wie damals, als die chinesischen Kulturprodukte noch monatelang über die Seidenstrasse nach Europa getragen wurden.
So war der Bankomat vielleicht auch kein Ausdruck chinesischer Höflichkeit, sondern einfach wieder einmal ein schlecht programmierter Apparat...




1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wie immer, äusserst interessant Einblicke ins Innere des Landes zu bekommen, wo du zur Zeit arbeitest. Danke für all diese Informationen. Hast du dir nun einen neuen Bankomaten gesucht? ;-)

Gruss aus dem Wallis

Heri