Shoppingbummel im Pearl River Delta. Da muss man erstmal mithalten können.
Will man Tee kaufen, kann man in Guangzhou auf den Tea Market gehen. Der besteht aus sehr wahrscheinlich über tausend (wenn nicht mehreren tausend) verschiedenen Geschäften, die bis auf wenige Ausnahmen fast alle dasselbe anbieten und wo in jedem Geschäft mehrere, teils gelangweilte, teils freundlich lächelnde Damen und Herren warten. Auch andere Güter werden hier in "Markets" verkauft. Da gibt es den Leather Market, den (faked) Watch Market, den Western Clothes Market, den Pearl Market, den Silk Market, den Electronics Market... Und auf jedem Markt dasselbe Bild. Tausende von Ständen oder Läden, bei denen man von aussen nicht beurteilen kann, auf was sie sich denn spezialisieren, falls sie dies überhaupt tun. Man kann eher von identischem Angebot sprechen.
Auf die Spitze getrieben fand ich dieses Konzept letzthin, als ich an einer grossen Strasse aus dem Bus stieg und gleich daneben ein Typ auf einer Plastikdecke ausgebreitet einige Tigerkrallen und -pfoten ausgebreitet hatte. Schlimm genug, aber von diesen Typen gab's auf den nächsten zweihundert Metern noch acht weitere.
Man fragt sich immer wieder, wie die denn alle überleben. Aber offensichtlich rechnen all diese Geschäfte immer mit der Masse. In einer Stadt mit 20 Millionen Einwohnern wird ja wohl irgendwann mal einer vorbeikommen, der etwas kauft.
Man spricht ja immer so sehnsüchtig vom verlockenden chinesischen Binnenmarkt, wo der Konsumboom noch in greifbarer Zukunft liegt. Jede westliche Marke, welche etwas auf sich hält, fühlt sich verpflichtet, in China präsent zu sein. Auch wenn auch diese Läden meist leer sind. Rechnen auch all die westlichen Firmen damit, dass bei 1.3 Milliarden Einwohnern ja irgendwann mal einer vorbeikommen muss, der etwas kauft?
Schaut man sich die jeden Tag neu aus dem Boden gestampften Immobilieninvestitionsprojekte von Näherem an, so stellt man fest, dass keine dieser etwas besseren Siedlungen zu mehr als 30% bewohnte Wohnungen vorweisen kann. Noch etwas krasser ist die Situation bei den noch etwas teureren Villenquartieren oder den Büro- und Geschäftsblöcken. Dazu reicht dann offentlich die Kaufkraft des Grossteils der Bevölkerung halt doch (noch) nicht. Und doch wird in unserem Estate, seit wir hier sind, fast jede Woche ein neues Geschäft eröffnet, steht man, wenn man abends mit dem Taxi aus der Stadt nach Hause fährt, erst mal im Stau. Normal? In Paris, London oder sogar dem klitzekleinen Genf steht man ja schliesslich auch regelmässig im Stau. Aber da kann man wenigstens davon ausgehen, dass schon alle, die mit dem Auto fahren wollen, das auch tun und schon ein oder sogar mehrere Autos besitzen. In China aber leben immer noch über 70% der Bevölkerung auf dem Land. Da können sich die meisten oft noch nicht einmal ein Fahrrad kaufen. Und auch unter den restlichen 30% der Stadtbewohner können sich noch lange nicht alle ein Auto leisten. Und jetzt schon Stau?
Alles ein paar Dimensionen zu gross? Alles eine Spur zu schnell?
Während bei uns die Autoindustrie zu darben scheint, haben sich fast alle meiner langjährigen chinesischen Freunde inzwischen ein Auto gekauft. Obwohl sie noch längstens nicht zu den oberen 10'000 (oder hier wohl eher zu den oberen 1'000'000) gehören. Und auf einmal, wenn es sich um Freunde handelt, wenn Namen hinter diesen wie sie bei uns beschrieben werden "konsumwütigen Chinesen" stehen, wird alles so verständlich. Klar, dass sie wie wir auch am Wochenende mal in die Hot Springs fahren wollen. Klar, dass sie am Samstag gerne mal der Grossstadt entfliehen wollen und zum Meer oder ins Hinterland wollen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind diese Dinge nicht zu schaffen. Dafür ist das Netz einfach zu schlecht ausgebaut. Aber die Regierung steckt ja jetzt bekannterweise Milliarden in Infrastrukturprojekte, damit es vielleicht doch noch möglich wird, die Entdeckungs- und Konsumgelüste des immer grösser werdenen Mittelstand zu stillen. Im Wallis wird, seit ich lebe, an ein paar Kilometern Autobahn durchs Rohnetal herumgestritten und Stückchen für Stückchen gebaut. Hier entsteht innert kürzerster Zeit eine neue Eisenbahnstrecke, eine neue Schnellstrasse quer durch Wohngebiete oder freie Natur. Egal. Das Gute daran ist, dass das Ganze sowieso so schlecht gebaut ist, dass es dann auch einfach wieder abgerissen werden kann. Somit sind dann auch die Infrastrukturinvestitionsprojekte der Zukunft gesichert. Abgerissen wird hier nämlich fast so oft wie gebaut. Und nicht nur historische Denkmäler. Wieso soll man für die Ewigkeit bauen, wenn man die Bauten gerade jetzt braucht und die Ewigkeit als Konzept gar nicht wirklich existiert.
Nachhaltigkeit scheint auch nur propagiert zu werden, weil das Ganze sich zu verselbständigen scheint und man keine Möglichkeit mehr hat abzuschätzen, ob eben das Angebot schneller wachsen wird als der tatsächliche Return on investment, wenn sich das Angebot niemand leisten kann, oder ob die Gelüste so schnell wachsen, dass man mit dem Angebot nicht mehr nachkommt.
Wenn ich von hier aus die politischenDebatten in der Schweiz verfolge, kommt mir manche schon jetzt nach nicht einmal einem Jahr hier sehr skurril vor. So meilenweit von den hiesisgen Denkmustern, von den hiesigen Problemen, vom Entwicklungsstand und ganz einfach von den chinesischen Dimensionen entfernt. Fast noch seltsamer wird es dann, wenn man Artikel über China liest. Die sind nämlich dann aus derselben kleinen, europäischen Perspektive geschrieben.
Aber mit diesen Augen kann man China nicht erfassen. Ich merke es ja immer wieder daran, wie schwierig es ist, diese Beiträge zu schreiben, ohne mich immer wieder zu verstricken und auf übernommene Platitüden herabzulassen. Vorurteile und Schemen, welche man von hier aus einfach nicht bestätigen kann. Es ist so schwierig dieses Land in Worte zu fassen. Immer wieder entgleitet es einem, wenn einem beim Schreiben einer These schon wieder mögliche Beispiele für eine Antithese einfallen.
In Europa gibt's in jedem Kaff Ortsschilder und Hinweisschilder wie weit es bis zum nächsten Kaff ist. Und jeder weiss, welches Autobahnstück im 2015 fertiggestellt werden wird. Die meisten Chinesen, auch die gebildeteren, können auch die rudimentärsten geographischen Karten nicht lesen und wissen auch nicht, wo sie durchfahren, wenn sie im Reisebus zum Ferienresort sitzen. Auch für sie ist das Leben, welches sie seit rund 60 Jahren zu erobern im Begriffe sind immer noch einige Dimensionen zu gross.
Was morgen passiert, ist alles offen.
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