Freitag, 15. Juli 2011

Digression über das Schreiben aus der Ferne - Globalisierte Welt und Vorurteile


Den vorliegenden Beitrag habe ich vor etlichen Monaten noch in China begonnen und erst jetzt, ebenfalls mehrere Monate nach unserer Rückkehr in die Schweiz, fertiggestellt. Er dokumentiert sozusagen die Transition von der östlichen zurück in die westliche Welt.

So viele angefangene und unvollendete Gedankenfetzen kreisen auch heute noch täglich in meinem Kopf herum, mit denen ich das Gesehene und Erlebte umschreiben möchte. Sätze, in die ich mich verliebe, weil sie so schön klingen, die ich dann aber wieder fallen lasse, weil sie einer näheren Betrachtung, einer fairen Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht standhalten.

Ich bin immer wieder erstaunt, welch lange und doch so banale Artikel zum Thema China geschrieben werden. Amüsant sind vor allem die, von welchen ich zufälligerweise kurz zuvor den Quelltext gelesen habe. Nämlich meist einen kurzen Artikel in der China Daily, der offiziellen englischsprachigen Zeitung Chinas. Erstaunlicherweise steht in der "freien westlichen" Presse oftmals nicht viel mehr als im zensurierten Parteiorgan. Dass die chinesische Presse das Thema hinreichend abgedeckt hätte kann ja kaum der Grund sein, wo doch die Zensur in den vergangenen Monaten wieder merklich angezogen hat. Mangel an Recherche wegen Sprachbarrieren? Mangel an kulturellem Einfühlungsvermögen? Journalistischer Zeitdruck?

Aber es gibt auch hie und da einen Artikel, wo ich aufgrund meiner eigenen Gehversuche im Schreiben spüre wie der Schreiber versucht, sich an ein Gefühl oder ein Thema heranzutasten, welches über diese Platitüden hinausgeht. Oft kann ich erahnen, was der Autor beschreiben wollte, weil ich diese Situationen selbst noch so oft erlebt habe. Und somit fühle ich förmlich auch die Frustration des Autors, sich wohl eben ein weiteres Mal nur unzulänglich an das Thema herangetastet zu haben, der Komplexität der Sache nicht gerecht werden zu können und wieder mal nur banale Schlüsse ziehen zu müssen, weil der Artikel ja nicht zu lange sein darf.

Ich selbst habe während der zweieinhalb Jahre unseres Chinaaufenthalts die Erfahrung extremer Subjektivität von Erlebnissen und Einstellungen gemacht. Nicht nur, dass jeder dieses Land anders erlebt, je nachdem wie ängstlich, abenteuerlustig, individualistisch, anpassungsfähig oder exponiert jemand ist. Vielmehr hat sich meine eigene Einstellung zu diesem Land fast täglich, zumindest aber monatlich gewandelt. Es gibt Dinge, die ich am Anfang unbedingt beschreiben wollte welche mir jetzt aber zu selbstverständlich scheinen respektive gar nicht mehr wirklich auffallen. Dann wiederum die Faszination darüber, dass eigentlich nichts so ist, wie man es sich vorgestellt hat und wie alle bei uns es sich vorstellen. Die Faszination, dass man, auch nach Jahren und etlichen Versuchen, die Sprache zu erlernen, noch immer das Gefühl hat, sich nur um wenige Zentimeter an diese Kultur herangetastet zu haben. Alles was man sieht, erlebt oder liest muss neu interpretiert werden. Das Wort "Entfremdung" fällt mir immer wieder ein. Nämlich genau das, dass alle Bedeutungen und Werte, welche wir als implizit (das französische "valeurs intrinsèques" beschreibt dies noch schöner) erachten, sich auf einmal auflösen und völlig anders eingestuft werden müssen.

Was ich im Artikel "Culture IV" geschrieben habe stimmt insofern nicht ganz als es nicht immer nur schlechte Kopien des Westens sind welche in China realisiert werden, sondern oft auch immer wieder Neuinterpretationen. Nur braucht dieses Neuinterpretieren, dieses Sichneuerfinden halt mehr Zeit, als wir den Chinesen zugestehen wollen. Wahrscheinlich auch mehr, als sie sich selbst zugestehen wollen. Am Anfang sind es wohl nur kleine für den Unachtsamen kaum erkennbare "Verschiebungen". Eine wahre Neuinterpretation wird nicht zuletzt durch die allmächtige Präsenz der kommunistischen Partei stark behindert. Und doch gilt es gerade auf diese Verschiebungen acht zu geben, um ein besseres gegenseitiges kulturelles Verständnis zu erreichen, zumal auch die kommunistische Partei nur eine kleine Verschiebung, eine Neuinterpretation der vorherigen Kaiserdynastien ist.

Diese kleinen Verschiebungen machen sich nämlich gerade dann bemerkbar, wenn man bei der Rückkehr in die Heimat von China erzählen will und merkt, wie schnell die Daheimgebliebenen dabei abgehängt werden, wie wenig sie über diesen Teil der Welt wissen, trotz der fast täglichen Berichterstattung in den Medien. Sich wirklich über das Erlebte austauschen kann man eigentlich nur mit denen, welche selber längere Zeit in China verbracht haben. Da eben merkt man, welchen Weg der Anpassung man gegangen ist, auch wenn sie sich leise und unbemerkt vollzogen hat, auch wenn man in China eigentlich überhaupt nicht das Gefühl hatte, sich besonders angepasst zu haben, auch wenn ich behaupte, dass nur wenige Westler in ihrer Anpassung überhaupt so weit gehen wie wir es getan haben.

Landet man denn mit vielen kleinen Verschiebungen wirklich in der anderen Kultur? Oder handelt es sich nicht doch eher um eine "Transposition", wo man entweder in der einen oder in der anderen Kultur sein kann, eine Fusion aber kaum möglich ist? Was ist ein Kulturschock oder ein Culture Clash anderes, als eine zu schnelle Transition vom einen zum anderen?

Die chinesiche Kulturrevolution hat beim Versuch einer Hochgeschwindigkeitstransition quasi zum Identitätsverlust der Chinesen geführt. Die Transposition in eine durch und durch westliche Gesellschaft ist ihnen aber dennoch nicht gelungen. Und gleichermassen gelingt es auch den wenigsten Westlern, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten in China leben, sich anzupassen, sich lückenlos mit der chinesischen Kultur zu identifizieren oder zumindest sie wirklich zu verstehen. Und das hat nicht nur mit der hohen Hürde des Erlernens der Sprache zu tun.

Ich merke wie ich immer wieder versuche Assoziationen aus der Mathematik oder der Musik herbeizuziehen, um diese soziologischen und kulturellen Phänomene diskutieren, explorieren zu können, um zu verstehen, wie man von einer Kultur in die andere übergehen könnte, um eben die viel gesuchte Fusion Culture zu erreichen. Aber wie ein Stück in einer Tonart geschrieben ist und man es erst in eine andere Tonart transponieren muss, so kann man nicht gleichzeitig chinesisch und westlich denken. Genauso aber, wie es Passagen in Moll in einem Dur-Stück gibt, welche einer Komposition überhaupt die nötige Spannung verleihen, so gibt es Berührungspunkte zwischen den Kulturen, welche ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, als wenn sich eine Wertordnung immer nur um sich selbst dreht. Dies aber bedingt eine bewusste Auseinandersetzung, über anfangs beschriebene Platitüden hinweg.

Und deshalb ist es auch sicher, dass ich nicht das letzte Mal in Asien gewesen sein werde. Denn ich spüre, wie hier zu Hause der Ansporn des konstanten Hinterfragens, der ständigen Konfrontation, immer schwächer wird, wie man sich, mangels täglichem Zwang zum Benchmarking allzu gemütlich zurücklehnt und somit so manche "Neuerfindungsmöglichkeit" verpasst.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

和谐社会 - he xie she hui - Harmonious society I


Ich bin gerade daran, einem ehemaligen Lehrer meiner Tochter einen Brief ins Gefängnis zu schreiben. Das dauert etwas, denn es muss auf Chinesisch sein. Englische Schreiben kommen nicht durch die Gefängniszensur.
Nein, er hat die Charta08 nicht unterschrieben. Wahrscheinlich wusste er, wie die meisten Chinesen, nicht einmal, dass es sie gibt. Aber er ist eines der vielen Opfer des Systems, welches eben jene Dissidenten anprangern. Deshalb möchte ich zwischendurch, aus aktuellem Anlass, seine Geschichte erzählen. Ganz naiv und chronologisch. Ich denke, die Abfolge spricht für sich und dient als Einführung in die Gegenwart des chinesischen Rechtsverständnisses.
Unsere Töchter gehen in eine Schule, wo wir zu den wenigen gehören, die ihre Kinder zu Fuss abholen und nicht im Tuareg oder irgendeiner S-Klasse vorfahren. Auch solche Eltern wollen in China nur das Beste für ihre Kinder. Dazu gehört, dass die besten Lehrerinnen ihre Sprösslinge während der ganzen 4 Kindergartenjahre betreuen. Als eine dieser Lehrerinnen kündigen wollte, weil sie anderswo ein besseres Angebot bekommen hat, hat die Elternschaft sofort aufbegehrt。
Die Schule hatte schon eine musterhafte Vorzeigestunde der Nachfolgelehrerin und ein Elterntreffen organisiert, um alle davon zu überzeugen, dass es doch ganz harmonisch weitergehen konnte. Doch da hatten sie sich geirrt. Inzwischen hatten sich 3 der Elternvertreter ausgedacht, dass diese Zustände das hohe Schulgeld doch nicht wert waren und dass man die Schuldirektion unter Druck setzen konnte, indem man dem männlichen Hilfslehrer einfach ein paar Pädophilievorfälle in die Schuhe schiebt. Man setzte Gerüchte in die Welt und holte die Presse, welche auf einmal ganz frei von irgendwelchen unzüchtigen Handlungen an diesem Kindergarten berichten konnte.
Das versetzte die Schuldirektion, welche ein Risiko für ihr Business roch, in Panik. Sie überzeugten die kündigende Lehrerin, unter Lohnerhöhung und sonstigen Versprechungen, doch noch zu bleiben. Die Lehrerin willigte sogar ein, dem Lehrer zuliebe. Dieser wurde aber dennoch am nächsten Tag von der Polizei abgeholt. Seither verlangen die Eltern 1 Million Yuan für jedes angeblich "belästigte" Kind. Aber nicht etwa vom Staat, sondern direkt von der Schuldirektion, ganz unabhängig vom Ausgang irgendeines Gerichtsentscheids.
Als Reaktion werden die Eltern der betroffenen Klasse wiederum zu einer Elterninformation eingeladen. Die beginnt mit einem tiefen Kotau der Schuldirektorin, in dem sie alle um Entschuldigung bittet. Danach folgen die Wiedergutmachungsleistungen: Die Kinder können nun jeden Freitag nachmittag noch zwei zusätzliche Phonetikstunden besuchen, die Qualität der Schulbücher (wohlbemerkt für Kindergartenkinder!) wird angeblich an eine neue australische Methodik angepasst, die Schulgelder der betroffenen Klasse wird im nächsten Semester um 20% reduziert und nicht zuletzt darf die Elternschaft einen Katalog von 5 Psychologinnen durchblättern, und nach Gutdünken eine davon auswählen, welche ihre Kinder betreuen soll. Das schien alle zufriedenzustellen. Die Anzettler der Intrige hatten ihre Kinder inzwischen sowieso von der Schule genommen und waren gar nicht mehr präsent.
Der Lehrer aber wurde in einem geschlossenen Gerichtsverfahren, ohne Zeugen, mit zugewiesenem Marionettenverteidiger, zu 2 Jahren und 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Aber das kümmert die Elternschaft nicht mehr. Ausser die Anstifter, welche angeblich immer noch auf ihren Forderungen beharren.
Ob die Gründe, welche ich hier aufgeschrieben habe, wie sie mir die Freunde des Lehrers erklärt haben, wirklich die einzigen sind und nicht noch andere Machtspiele hinter den Kulissen ablaufen, sei dahingestellt. Erziehung ist in China ein einträgliches Business wie jedes andere und somit auch eines mit Risiken wie jedes andere.
Die Ironie des Schicksals ist aber, dass der Lehrer aus einer armen Familie in Sichuan stammt, Rechtswissenschaften studiert hat und eigentlich nur Kindergärtner war, um sich seine Abschlussarbeit finanzieren zu können.

Monatslohn einer Kindergartenlehrerin, welche als Unterkunft mit zwei anderen Lehrerinnen ein Zimmer teilt: 1600 RMB
Monatliches Schulgeld pro Kind, um in solch einem Kindergarten, zusammen mit ca. 25 anderen Kindern unterrichtet zu werden: 4500 RMB

Dienstag, 12. Oktober 2010



Manchmal sagt das, was einen bei einem Besuch in der Heimat fasziniert genauso viel aus ueber das Land, in dem man gerade lebt...

Freitag, 4. Juni 2010

头痛医脚 - Wenn der Kopf schmerzt, behandle den Fuss - Culture IV


Ich bin in der letzten Zeit mehrmals darauf hingewiesen worden, dass mir wohl China, das Land für das ich angeblich solch grosse Begeisterung empfunden hatte, nicht mehr so sehr gefällt. Die Bemerkung hat mich sehr beschäftigt, zu beantworten ist sie aber nicht so einfach. Dazu muss ich zu einem längeren und vielleicht etwas zu abstrakten Diskurs ausholen.
China ist keine Karibikinsel, die man einfach nur toll finden kann und von der man sich höchstens nach etwas Strandüberdosis gelangweilt abwenden kann. China ist eine ständige Herausforderung. Und wenn man einmal angefangen hat, sich ihr zu stellen, lässt sie einen nicht mehr los, ob man es will oder nicht.
Am Anfang hat mich China fasziniert durch die grundlegend verschiedene Kultur. Vor allem in Bezug auf die Philosophie, die Schrift und die Medizin. Diese sind ja nun mal nicht nur einfach verschieden, sondern man kann das schon eher als "orthogonal" zu unseren Systemen bezeichnen.
Mit orthogonal bezeichnet man in der Mathematik linear unabhängige Systeme und in der analytischen Chemie z.B. zwei Trennmethoden, welche derart verschieden sind, dass sie über dieselbe Substanz grundlegend verschiedene Aussagen machen können. Und so sticht der chinesische Arzt einem Kopfwehpatienten Nadeln zwischen die Zehen oder behandelt etwa die Nieren, wenn ein anderer Ohrensausen hat. Wenn das mal nicht orthogonal zur westlichen Schulmedizin ist, um ein und dieselbe Substanz, nämlich den menschlichen Körper zu heilen.
Und so fasziniert umgekehrt auch unser Unvermögen, diese Art der Medizin mit unserem Denken zu fassen. Wieso sonst würde man klinische Studien nach westlichem Schema anlegen, um die Wirksamkeit der TCM zu untersuchen? Studien, wo alle Parameter, von der zufälligen Wahl der Patienten bis zur statistischen Auswertung der Daten, einem rein westlichen Denken entspringen. Dazu können chinesische Ärzte nur den Kopf schütteln. Das kann ja nicht gehen, wenn zwei Systeme eben linear unabhängig und nicht nur etwas verschieden sind.
Oder ganz allgemein das Konzept des Yin und Yang, welches so gar nicht in die theologischen Dispute und die Dialektik unserer abendländischen Geschichte hineinpasst.
Und so kommt man mit diesen westlichen Schemen und einer Menge Illusionen im Kopf hierhin und nimmt sich vor, diese Kultur verstehen zu lernen und mit ganz neuen Ansätzen zur Lebensbewältigung wieder nach Hause zu gehen. Was man dann findet, ist ein gigantisches Land, mit einer gigantischen Geschichte und einer gigantischen Bevölkerung, welches seit rund 100 Jahren sozusagen die Quadratur des Kreises versucht, nämlich seine Kultur der westlichen anzugleichen, um materiellen Wohlstand zu erlangen. Was den Konflikt zwischen 5000 Jahren YinYang und 2500 Jahren "atomistischem Materialismus" und Bibel faszinierend macht, macht den Kontrast zwischen einer demokratischen, "arrivierten" Wohlstandsgesellschaft und einem totalitären, überbevölkerten, nach wie vor unterentwickelten, aber voll im Aufbruch befindlichen Land überwältigend und frustrierend zugleich.
Und irgendwie extrapoliert man dann dieses chinesische Extrembeispiel auf die anderen Entwicklungsländer. Und man fragt sich, ob denn Entwicklungshilfe, wie wir sie verstehen, überhaupt funktionieren kann, wenn eben die "zu Entwickelnden" so gar nicht das gleiche Denken und die gleiche Geschichte haben wie wir. Technischer Fortschritt und Innovation ist für uns schwer vorstellbar ohne die zugehörige gesellschaftliche Konstellation. Das machen Wissenschaftshistoriker noch so klar. Aber heisst entwickeln somit unausweichlich auch andere Werte und Lebensarten zugunsten der westlichen aufgeben?
Doch nach einer Weile muss man sich wiederum fragen, ob unsere "Werte", auf welche wir uns so viel einbilden, wirklich so stabil sind, dass wir auch in weiter Zukunft die Oberhand haben werden, d.h. dass weiterhin Westler als gutbezahlte "technical Experts" in alle Welt geschickt werden und die andern nur immer unsere Systeme kopieren.
Noch ist es so. Noch sind wir Westler erfüllt mit diesem Überlegenheitsgefühl. Sowohl die altruistischen Entwicklungshelfer, als auch die profitsuchenden "global Players". Denn sowohl bei der Einführung von Trinkwasserbrunnen in tropischen Dörfern, als auch beim Aufbauen von Industrieanlagen sind wir davon überzeugt, dass wir etwas Besseres sind oder zu bieten haben. Schlussendlich sind auch Antikorruptionsaufklärungskampagnen, sowie das Pochen auf geistiges Eigentum oder universelle Menschenrechte nichts anderes als unsere Ansicht von "Fortschritt".
Aber es gibt auch Anzeichen, dass es in Europa (und in den USA) nicht mehr so rosig ist. Implizit bedeutet das aber auch, dass es den Chinesen, wenn sie mit dem Kopieren bis zuletzt Ernst machen würden, früher oder später ähnlich ergehen würde, weil dann eben die Grenzen unseres Systems erreicht sind. Die Gefahr ist gross, dass sie die Grenzen sogar noch viel früher erreichen werden, denn unsere Systeme (im übergeordneten Sinn) sind nicht auf die Bedingungen ausgelegt, mit denen diese Nation zu kämpfen hat.
Deshalb fragt man sich tagtäglich, ob sie wirklich je unseren Lebensstandard erreichen können, solange sie doch ganz anders denken und handeln und grundlegende Systeme und Theorien, auf denen eben unser technischer und gesellschaftlicher Fortschritt basiert, nicht verstehen und umsetzen können.
Aber genauso oft fragt man sich, wieso sie denn diesen so total anderen geographischen, demographischen und entwicklungspolitischen Herausforderungen nichts anderes, eben "orthogonales" mehr entgegenzusetzen haben, sondern nur schlechte Kopien der westlichen Erfindungen.
So möchte man eigentlich gerne herausgefordert werden durch ganz andere Denkstrukturen und Systeme, wie eben einst TCM und YinYang, aber den heutigen Herausforderungen angemessen, damit man auch das Gefühl hätte, davon profitieren zu können, um unsere eigenen Gesellschaftsprobleme anzugehen. Aber wirklich Bewundernswertes ist mir nicht oft begegnet in letzter Zeit.
Es werden Antikorruptionskampagnen geführt, ohne ein unabhängiges Rechtssystem aufzubauen. Das ganze Land wird nur nach BIP gemessen, obwohl sie sich damit die gesamte Umwelt mehr als zerstören und sich die Arm-Reich-Schere in einem gewaltigen Ausmass in nie gekannter Geschwindigkeit aufreisst. Sie nennen sich kommunistische Partei, obwohl es wohl kaum etwas Unkommunistischeres gibt als die chinesische Gesellschaft, ausser vielleicht die Bespitzelung, Zensurierung und Einschüchterung der Bevölkerung und der allgegenwärtige schlechte Geschmack.
Das ist es, was in meinen Berichten vielleicht meine Enttäuschung und Abneigung durchblicken lässt, und was das Leben eines Westlers manchmal hier so schwer macht. Aber gleichzeitig ist da eben auch das Gefühl, sich nicht so einfach davon abwenden zu können. Denn auch wenn China gegenwärtig vielleicht noch keinen spirituellen oder technologischen Gegenpol zu unseren "Errungenschaften" bringen kann, so sind seine Dimensionen und die entsprechenden Herausforderungen doch so gross, dass sie uns beeinflussen und noch beeinflussen werden. Und ich bin nicht sicher, dass wir für die "umgekehrte" Quadratur des Kreises besser gewappnet sind.

Sonntag, 7. März 2010

Education II


Wie manifestiert sich denn ein Erziehungsstil später im Erwachsenenalter? Kann man wirklich Zusammenhänge sehen zwischen dem Erziehungs- und Schulwesen und der Situation des Landes? Wieso wirkt die Art von Pädagogik, wie sie in allen chinesischen Schulen betrieben wird, auf uns Westler so abschreckend?

Ein Gedanke kommt mir immer wieder und wird in vielen Begegnungen immer wieder bestätigt. Nämlich der, dass das Erziehungssystem als solches vielleicht die Massen beeinflussen kann, nicht aber die wirklich herausragenden Individuen. Bei uns sind ja auch nicht alle fähig, sich eine wirklich eigene Meinung zu bilden oder einen eigenen Geschmack zu entfalten, geschweige denn sind alle innovative Firmengründer oder subversive Künstler. Und genauso gibt es in China wiederum (wie in jedem totalitären Land) immer wieder herausragende Leute, die die Dinge hinterfragen, die einen eigenen Lebensstil entwickeln, trotz aller Umstände, die eigentlich dagegensprächen. Und das muss nicht unbedingt mit westlichem Einfluss zusammenhängen, sondern gilt ganz besonders auch für die, welche sich intensiv mit der traditionellen chinesischen Kultur auseinandersetzen, obwohl das auch nicht unbedingt von der Partei gefördert wird.

Auf der anderen Seite ist es aber schon so, dass das Erziehungssystem die Massen konditioniert. Und leider sind die Massen in China so riesig, so dass die eigenständig Denkenden in ihnen eher untergehen. Auffallend ist im Umgang mit den "einfachen" Leuten im Alltag immer wieder eine, um es blank auszudrücken, überwältigende Stupidität. Man hält es teilweise fast nicht für möglich, dass jemand so dumm sein kann. So hat man eigentlich ständig das Gefühl, dass man nie davon ausgehen kann, dass sich einer bei seiner Handlung etwas überlegt (z.B. wenn einer aus einer Nebenstrasse einfach auf die vierspurige Hauptstrasse einbiegt ohne zu schauen oder gar abzubremsen, oder wenn ein sogenannter Klempner fast das Waschbecken zerstört, weil er unbedingt das eigentlich zu dicke Abflussrohr in das Loch stopfen will).

Zum Glück gibt es aber nicht nur diese. Es gibt auch die legendären Lerneifrigen. Durch dieses ständige Üben des Nachahmens und Auswendiglernens haben die Chinesen eine ausserordentliche Aufnahmefähigkeit entwickelt. Viele Dinge, welche bei uns erst lang und breit diskutiert werden müssen und erst mal auf Widerstand treffen, werden hier einfach umgesetzt. Diese scheinbare Taten- und Umsetzungskraft ist es ja, was wir an den Chinesen so bewundern. Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass sie die Instruktionen nicht ganz zu Ende gehört haben, oder sich alle Konsequenzen richtig überlegt haben, so fragt man sich doch auch des öfteren, ob wir Europäer uns die Welt nicht manchmal zu kompliziert und umständlich gestalten, wenn es offensichtlich auch so einfach geht.

Auf der anderen Seite sind diese Leute aber auch äusserst ausgeliefert, wenn es sich darum handelt, von jemandem etwas eingetrichtert zu bekommen. Gleichschaltung in dem Sinne, dass man fast auf jede beliebige Frage fast dieselben Antworten bekommen wird, unabhängig davon, wen man fragt (vielleicht gerade mal abhängig vom Bildungsstand). Jeder wird einen korrigieren, dass Taiwan eine Provinz von China ist, jeder wird die gleichen vier Hauptklassiker der chinesischen Literatur zitieren, jeder wird sagen, dass es heute in China viel besser ist als vor 30 Jahren, jede Frau mit Kind ruft beim Anblick meiner Mädchen erst mal "Jiejieeeee" (ältere Schwester) und jeder weiss, dass Mao 30% Schlechtes und 70% Gutes vollbracht hat. Sprich, es ist eigentlich in den meisten Fällen ziemlich langweilig, ein Gespräch mit jemandem anzufangen. Noch dazu hat hier jeder spezielle Diskussionstechniken entwickelt, welche es ihm erlauben immer wieder auf diese allgemeinen Floskeln zurückzugreifen, um ja nichts über sich selbst preisgeben zu müssen. Aber die ständige Suche nach der Wahrheit und nach Selbstexpression ist gerade das, was den westlichen Spleen und demzufolge unser Erziehungssystem ausmacht. Die Chinesen bezeichnen unsere endlosen Diskussionen (ob bei der Arbeit oder beim Essen) meist als langweilig und sinnlos.

Welche Erziehungsart eine Gesellschaft gutheisst, hängt ja damit zusammen, welchen Zweck diese erfüllen soll, was im Leben als Ideal gilt. Und so ist es folgerichtig in einer Kollektivgesellschaft nicht so wichtig, dass nicht die Entfaltung der eigenen Individualität im Vordergrund steht, sondern eben die Identifikation mit der Masse. Andererseits offenbart sich die "reale Kollektivgesellschaft" fast schon in Analogie zum "realen Sozialismus" dadurch, dass erst einmal jeder für sich schaut und versucht, einen möglichst grossen Happen für sich zu ergattern, über die Leichen der anderen zigtausend Anonymen hinweg.

Das Ideal der Kollektivgesellschaft wurde ursprünglich vor allem als Friedensmassnahme entwickelt. Eine "harmonische Gesellschaft" sollte es ermöglichen, dass es nicht dauernd zu Streitereien und Kämpfen kommt. Und heute, bei solch einer Bevölkerungsdichte, unter den herrschenden Umständen der limitierten Ressourcen haben die Chinesen (und auch die Japaner und manche anderen asiatischen Völker) gar keine andere Wahl. So ist es auch eine ziemliche Gratwanderung, eine solch dichte Gesellschaft mit erhöhten individuellen Freiheitsgraden ausstatten zu wollen. Deshalb herrscht in China, bedingt durch die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse extremer Konkurrenzdruck mit vergleichsweise extrem niedriger Differenzierung und Positionierung. So dass man sich seinen Happen vor den anderen eben nur dadurch ergattert, indem man schneller, höher oder grösser ist, nicht aber, indem man etwas total anderes macht. Und dies wiederum wird durch das Erziehungssystem noch begünstigt. Soweit ich es beurteilen kann ist das Schulsystem in den weiter entwickelten Staaten wie Japan oder Korea nicht sehr viel anders. Nur dass diese es geschafft haben, wenigstens das politische und religiöse Umfeld einigermassen zu befreien.

So ist es auch schwierig, die verschiedenen Erziehungssysteme und ihr Potential zur Förderung des wirtschaftlichen Wohls einer Nation zu bewerten. Vielmehr reflektiert das System die Rahmenbedingungen. Und die sind bei uns in Europa ganz anders als in Asien. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Schulsysteme anders aussehen. Und deshalb ist es auch nicht ganz trivial, ein Erziehungssystem gegen das andere auszuspielen (z.B. das westliche gegen das asiatische). Jedes hat in seiner soziokulturellen Umgebung seine Berechtigung und Wirksamkeit und geopolitisch seine Vor- und Nachteile.

Eines aber ist sicher. Breites materielles Wohl und Lebensqualität sind auf jeden Fall eng verbunden mit Planungsfähigkeit. Diese wiederum hängt stark damit zusammen, mit wieviel Freiheit die "Planungsverantwortlichen" in ihrem jeweiligen Werdegang ausgestattet werden. Denn erst die Möglichkeit zur Selbstbestimmung über sein Schicksal macht Planung für einen Menschen überhaupt notwendig, falls er eben aus seinem Leben etwas machen will. Und gerade diese extrem eingeschränkte Selbstbestimmung der Chinesen während der ganzen Kindheit und Schulzeit führt dann zu einer Kultur der "last minute Improvisation" und schnellen Retuschierung von Problemen. Und darüber wird auch die grosse Vision der Partei auf Dauer nicht hinwegtäuschen können.


Dienstag, 3. November 2009

幼儿园 you er yuan - Education I

Rice, egg and beef, carrot and lettuce fried chicken, fried vegetable, tofu and fish soup, dragon fruit and green jujube. Das ist das heutige Mittagsmenu im chinesischen Kindergarten, welchen unsere Kinder nun seit über einem Jahr besuchen. D.h. eigentlich heisst das Ding "Canadian International Kindergarten". Aber bis auf zwei Koreaner sind sie unter rund 300 chinesischen Kindern die einzigen Ausländer. Und trotzdem ist es auch kein normaler, öffentlicher, chinesischer Kindergarten, sondern eine private Organisation, welche vor allem damit Werbung macht, dass sie einem modernen, westlichen Erziehungskonzept folgt.
Als ich letztes Jahr in der Eingewöhnungsphase während einigen Lektionen dabei war, war es für mich ein Schock. Was tun wir hier? Wieso tue ich das meinen Kindern an? Wie können wir so schnell wie möglich wieder in die Schweiz zurück, wo sie in der Krippe "Bäbizimmer" und Kuschelecken hatten? Aber dann denkt man sich, so schlimm kann es auch wieder nicht sein, schliesslich sieht die halbe Milliarde chinesischer Kinder auch nicht ganz so unglücklich oder verblödet aus. Also mal nur nicht die Kinder negativ beeinflussen und einfach mal abwarten, wie sich alles entwickelt. Und so lernen sie nun seit über einem Jahr chinesische Gedichte, Rechnen, Orff Musik, Golf und auch das Herunterleiern von "Hello everybody. My name is Jana. I'm 5 years old. I'm going to Canadian International Kindergarten. And today I am happy!" Jeden Tag kommen sie mit einem Heft heim, wo sie nach Discipline, Activity, Listetning to Teacher, Response, Reading und dergleichen bewertet werden. Und wenn sie tagsüber bestimmte Aufgaben besonders gut meistern, bekommen sie Punkte (bunte Sticker auf ihre persönliche Tafel geklebt). Am Anfang waren es sogar noch Bonbons... so richtig nach dem Seehundprinzip. Und siehe da, den Kindern gefällt's!
Alles, was man in unseren Kindergärten und Schulen um jeden Preis zu vermeiden versucht, wird hier voll durchgezogen. Leistung, Bewertung, Auswendiglernen. Und von den Eltern auch so verlangt. Study hard, listen to the teacher, learn by heart. Als eine der amerikanischen Englischlehrerinnen es mal wagte, den Eltern eines Kindes zu sagen, dass ihr Kind sich manchmal eigenständig tolle Dinge ausdenkt, waren diese ganz entsetzt, weil das ja implizit hiess, dass es während dieser Zeit nicht das macht, was ihm vorgezeigt wird.
Wenn ich den anderen Müttern oder Lehrerinnen zu sagen wage, dass ich freitags nicht arbeite und die Kinder dann auch nicht den Kindergarten gehen, kommen Fragen und Bemerkungen, die mir zu verstehen geben, dass sie sich an meiner Stelle Sorgen machen würden um die Zukunftsaussichten meiner Kinder. Immerhin bemerken sie dann, dass wir Ausländer halt nicht einem so grossen Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, weil wir ja nicht so viele sind. Diesen Vorteil benutzen wir dann gleich, um abends ganz anarchistisch die Hausaufgaben einfach links liegen lassen und die Mädchen lieber mit ihren Puppen spielen zu lassen. Die chinesischen Klassenkameraden hingegen besuchen meist auch samstags noch irgendwelche Englisch-, Klavier- oder sonstige Förderungskurse.

Auf jeden Fall schient hier noch kein chinesischer Piaget oder Pestalozzi seine Ideen entfaltet zu haben. Neurologische Erkenntnisse, zu was Kinder in einer gewissen Altersstufe angeblich fähig sind oder nicht, werden total missachtet. Alles, was bei uns ab der Primarschule möglichst spielerisch und vorsichtig an die Kinder herangebracht wird, wird hier schon um drei bis vier Jahre früher in einer Art pseudopartizipativem Frontalunterricht durchgezogen.
Hingegen ist es ein Faktum, dass quasi alle zweijährigen hier windelfrei sind (sofern sie überhaupt je Windeln hatten), dass ich noch nie ein chinesisches Kind mit einem Schnuller im Mund gesehen habe und dass unsere fünfjährige Tochter tatsächlich schon etwa 60 Schriftzeichen erkennen und verstehen kann (auch ohne abendlichen Drill).
Um durch letzteres wieder mal auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur zurückzukommen, musste ich mit Erstaunen feststellen, dass es für Kinder in diesem Alter offensichtlich naheliegender ist, chinesisch (also Wörter in Form von Schriftzeichen) zu lesen, als Wörter durchzubuchstabieren. Auch wenn sie schon alle 26 Buchstaben kennen, können sie ein Wort meist noch nicht lesen, geschweige denn verstehen, was diese Ansammlung von Buchstaben denn für ein Objekt repräsentiert. Ein chinesisches Zeichen, wenn es erst mal erkannt wird, trägt gleichzeitig auch gleich seinen Sinn in sich. Was sich später im Erwachsenenalter als einfacher herausstellt, nämlich eben das Lesen von alphabetischen Schriften anstelle von Piktogrammen, scheint zuerst mal weniger intuitiv zu sein. So ergibt sich eben die Tatsache, dass es in so frühem Alter (zum Teil werden im Alter von zwei bis drei Jahren schon die ersten Schriftzeichen gelernt) möglich ist, lesen zu lernen, zusammen mit der schieren Menge, die erlernt werden muss, um überhaupt von flüssigem Lesen sprechen zu können (ca. 3500, um eine Zeitung lesen zu können), eine ganz andere pädagogische Ausgangslage.
Ich glaube aber auch, dass dieses Auswendiglernen und der Drill bei uns einen viel negativeren Einfluss hätte als hier. Nach dem konfuzianistischen Ideal muss Strenge (eines Führers oder Lehrers) = yan 严 immer mit Wohlwollen = ren 仁 und Moral, bzw. Tugend = de 德 gepaart sein. Zudem ist für die Chinesen ja trotz allem die Menschlichkeit und Gelassenheit immer sehr wichtig. Und diese Mischung scheint es irgendwie auszumachen, dass die Kinder sich trotz dieser Lernerei zu den Lehrerinnen hingezogen fühlen und eigentlich ein recht inniges Verhältnis zu ihnen haben. Zumindest das scheint ja an Pestalozzi und Co. durchaus anzulehnen, was man von europäischen Schulen, vor diesem Ideologiewechsel wohl nicht gerade behaupten konnte.
Das ist durchaus auch den relativ kleinen Klassen (ca. 20 Kinder) in diesen Privatschulen zu verdanken. In den öffentlichen Schulen, wo zum Teil zwischen 30 und 50 Kinder in dieselbe Klasse gehen ist nämlich an solche Intimität nicht zu denken. Zudem dachte ich letztes Jahr in meinem anfänglichen pädagogischen Kulturschock, dass es daran liegen müsse, dass in solchen Nobelkindergärten wie unserem eben auch besonderer Lerndruck auf die Kinder ausgeübt wird, damit aus ihnen auch sicher etwas wird, wenn man schon so viel Geld bezahlt. In Wirklichkeit ist es aber offensichtlich so, dass die, welche es sich leisten können, ihren Kindern damit eher noch ein paar Jahre der "Freiheit" mit Fächern wie Orff Musik, Malen, Golf oder Skating erlauben, bevor die ernste Zeit anfängt. Ab der Primarschule entschliessen sich aber die wenigsten weiterhin für solche "internationalen" Schulen, weil sie befürchten, dass diese zu lasch sind und später die Jugendlichen dann die Aufnahme an die chinesischen Universitäten nicht bestehen würden.
Aber von solchen Überlegungen sind wir zum Glück weit entfernt.


Montag, 3. August 2009

Lebensstile - 生活方式 - Culture III


Als wir angefangen haben Taijichuan zu lernen, hat unser Lehrer gemeint, für Ausländer sei das nicht so einfach, da einem ja das Verständnis für die chinesische Kultur fehle. Damals fand ich diese Bemerkung eigentlich beleidigend, da ich mir noch etwas auf mein hohes kulturelles Einfühlungsvermögen einbildete. Doch letzthin, als wir in einem Beethoven Klavierkonzert mit einer chinesischen Interpretin sassen, musste ich mich beim Gedanken ertappen, ob es denn für Chinesen überhaupt möglich sei, Beethoven zu spielen, ohne den "tiefen" Einblick in die europäische Kultur. Soviel zu gegenseitigen Vorurteilen. Aber sind es wirklich nur solche?
In diesem Zusammenhang kann man mal versuchen Kultur als "Lebensgefühl" anzusehen. Und dieses wiederum als die Art, wie man mit der "Condition humaine", von welcher wir alle erfasst werden, umgeht. Dass der Mensch nicht perfekt ist, weiss jeder auf der Welt. Aber wie man mit diesem Faktum umgeht, ist eben Teil der Kultur. Und verschiedener könnte dieser Umgang zwischen Asien und Europa fast nicht ausfallen.
So gehört zum Beispiel die Fähigkeit zur Selbstironie in unserer Kultur zu bewundernswerten Attributen. Wer sie beherrscht zeigt, dass er über den Absurditäten dieser Welt steht. Ebenfalls ist es auch fast eine Sache der Sympathiebekundung oder zumindest der geistigen Nähe, wenn man jemanden auf den Arm nimmt, oder wenn man ihn an einem ironischen Witz teilhaben lässt. Wenn er ihn versteht, wird er zum Komplizen des gemeinsamen Ertragens der Realität. Dieses Gefühl aber, auf diese Weise der Absurdität trotzen zu müssen hingegen, kommt nur unter der Bedingung eines monotheistischen Hintergrunds oder zumindest einer der post-monotheistischen Einstellungen auf. Der Westen ist durch die Idee eines allmächtigen Gottes oder einer universellen Wahrheit stark geprägt. Zum Finden dieser "Wahrheit" wurden im Westen die Theologie, die Dialektik und die Logik und schlussendlich die technologische Effizienz entwickelt. Um sich aber zeitweise vom Druck des Ideals, des allmächtigen Gottes, oder zumindest vom Druck des effizienzbesessenen Alltags und der ewigen Rückschläge zu befreien gibt's Feste, Parties, Bars... Implizit bedeutet das auch ein Infragestellen oder zumindest Herausfordern des Ideals, eine Huldigung and die "dark side", die teuflische Seite.
Und genau dieses "Problem" gibt es in der chinesischen Kultur nicht. Man ist nicht einem allmächtigen Gott ausgeliefert, dem man auch ab und zu die Zunge ausstrecken muss. In irgendwelchen Bars in chinesischen Städten, falls überhaupt vorhanden, sind entweder fast ausschliesslich Westler zu finden, oder sie sind, bis auf ein paar turtelnd rumsitzende Pärchen, fast leer, auch wenn das Dekor eigentlich recht cool ist. Das Nachtleben hat auf die Chinesen nicht dieselbe Anziehungskraft wie auf uns. Wer nicht unbedingt noch "businessmässig" unterwegs ist, befindet sich eigentlich nach 10 Uhr abends nicht mehr auf der Strasse (auch wenn es natürlich von den geschäftigen immer noch tausende gibt).
Die Chinesen scheinen eher einen miteinander zu heben, um damit das Harmonie- und das gemeinsame Respektgefühlt zu verstärken. Also gewissermassen als Teil des Alltags, nicht als "Flucht". Getrunken wird meist gegen Ende eines Bankettessens. Meist stossen die jüngeren mit den Älteren und Vorgesetzten als Ehrerbietung an, unter gleichaltrigen dann eher als Männlichkeitsbeweis. Dank meist relativ tiefer Alkoholresistenz finden die Trinkgelage sowieso ziemlich schnell ein Ende. Was sie danach machen, habe ich immer noch nicht wirklich herausgefunden. Höchstens vielleicht die Karaoke-Bars... Aber auch diese erfüllen nicht denselben Zweck wie unsere Bars und Tanzflächen. Die einzigen, die noch endlos und scheinbar sinnlos herumziehen müssen sind die Westler.
Das Ausruhen, Dösen, Entspannen, ja auch der gemeinsame Genuss von gutem Essen ist zwar definitiv ein wichtiger Teil des chinesischen Lebens. Es erfüllt aber meist den Zweck, seine Kräfte zu schonen oder aufzubauen für die nächste Arbeitsetappe und für ein langes Leben. Das hat aber wenig zu tun mit unserem ausdrücklichen "Sich Gehen Lassen". Genuss bedeutet bei uns meist auch bewusst in Kauf genommene Selbstzerstörung. Dass durchzechte Partynächte nicht besonders gesund sind, weiss jeder. Und doch brauchen wir sie (hin und wieder), als Kontrastpunkte im Leben, zum Abreagieren der Wirklichkeit. So wird denn auch gerade diese Seite bei uns auch als besonders kreativ bezeichnet. Die besten Ideen entstehen nicht am Arbeitstisch. Künstlerisches Schaffen entsteht (eben z.B. bei besagtem Beethoven) aus der Spannung zwischen göttlichem Ideal und der teuflischen Versuchung. Offensichtlich scheint diese Intensität aber auch zu verbrauchen. Die nach unserem Gutdünken intensivsten Künstler sind meist nicht besonders alt geworden, oder eines natürlichen Todes gestorben.
Rock'n'Roll ist aber auf jeden Fall keine chinesische Erfindung. Von westlicher Musik hat höchstens Céline Dion und Richard Clayderman hier eine Chance (mal abgesehen vom Klavierlernwahnsinn unter den Sprösslingen der Neureichen). Alles ist darauf ausgerichtet, ein gesundes, arbeitsames, erfolgreiches und langes Leben zu führen. Selbstironie oder Zynismus ist gewissermassen ein Gesichtsverlust, weil man nicht fähig ist, sich den einem auferlegten Herausforderungen zu stellen. Diese Überlebensstrategie gilt hier nicht. So wie die Idee des Beichtstuhls und der Vergebung nicht existiert, bedeutet Scheitern eben wirkliches Scheitern, und das darf man sich nicht erlauben...
Wenn man zu Hause, immer in derselben Kultur lebt, hält man alles um einen herum für so selbstverständlich. Man hat das Gefühl, man könne sich seine Werte und Philosophien selbst auswählen. Man lebt ja schliesslich in einer modernen, freien Gesellschaft. Da kann man es sich auch leisten, der Kirche den Rücken zuzukehren. Und auf einmal, in der Ferne, wo man ständig konfrontiert wird, mit völlig anderen Arten, mit dem Leben umzugehen, merkt man erst, welche Konsequenzen unsere Geschichte auf unser Denken und Dasein wirklich hat und dass unser "Lebensgefühl" eben nur eines von wahrscheinlich unzähligen möglichen ist. Und so fängt dann das Pendeln zwischen den Welten an. Die ständige Suche nach der anderen Hälfte. Hier in China bewundert man den Fluss des Lebens, den Gleichmut und das ständige Lächeln..., und sehnt sich auf einmal nach durchgetanzten Nächten, "ä liächtä ga näh" und der Freiheit, auch über die Risse im Leben in aller Oeffentlichkeit debatieren zu können. Und man entdeckt dann auf einmal Ideen wieder, von denen man sich eigentlich schon lange abgewendet hatte...
Wieso Beichtstühle und letzte Gerichte (zumindest in ihrer übertragenen Form) auf einmal wieder attraktiv werden in meiner Weltanschauung, versuche ich nach unseren Ferien in der Schweiz zu erklären.

Sonntag, 31. Mai 2009

Too small - 太小 - Dimensions II

Als ich nach den ersten sechs Monaten Mainland China in Hongkong zum ersten Mal eine Buchhandlung betreten habe, habe ich auf einmal bemerkt, wie mir das gefehlt hat. Dieses Gefühl, sich frei informieren zu können, sich wenn man wollte, jedes Buch der Welt einfach bestellen zu können. Oder auch einfach sich in einer ästhetisch ansprechenden Buchhandlung durch schöne Editionen durchzuschmökern, den Duft der weiten Welt einzuatmen. Hier sehen die Buchhandlungen eher grau aus, die Mehrheit der Bücher schlecht gebundene Paperbacks. Meist muss man froh sein, wenn die Bücher nicht schon vor dem Kauf beschädigt sind. Und man muss staunen, dass es überhaupt interessante Bücher gibt.
Mein "Zensurtestbuch", welches ich damals extra in unser Hausratsgepäck eingepackt hatte, um zu sehen, ob es wirklich so schlimm ist mit der Zensur, ist tatsächlich nie angekommen. "Confucianism and Human Rights" war offensichtlich schon zu anrüchig als Titel, obwohl es nichts Subversives enthält, von einem chinesischen Harvardprofessor (Tu Weiming) geschrieben wurde und eher versucht, das andere chinesische Verhältnis zu den Menschenrechten der Chinesen zu erklären. Schade, denn ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu lesen.
Auch die vorliegende Blogseite kann in China keiner lesen, da wahrscheinlich die gesamten Blogger.com Seiten von Google gesperrt wurden. Somit kann ich auch nur mit den nötigen technischen Tricks weiterschreiben.
Vor sechs Jahren habe ich in meinen eMails aus Dalian überzeugt verkündet, dass China entgegen alle westlichen Forderungen, ohne das jetztige totalitäre System keine Chance hätte, dass die Regierung schon weiss, was sie tut und dass es notwendig ist, um überhaupt vorwärts zu kommen. Ganz von dieser Meinung abgekommen bin ich immer noch nicht, aber es bohren sich immer mehr Zweifel und Fragezeichen in diese Überzeugung.
Es ist schon wahr, dass eben immer noch ein ganz grosser Teil der Bevölkerung aus Armen besteht, welchen man wirklich erst "Brot und Spiele " (Reis und Karaoke?) geben muss, damit sie zufrieden sind. Aber es gibt doch auch einen gewissen und langsam aber stetig wachsenden Bevölkerungsanteil, welcher schon zu mehr fähig wäre, welchen man aber in diesem Einheitsreisbrei ersticken lässt. Über Wirtschaftliche Aspirationen lässt man sie kaum hinausgehen. Und ausser wenn jemand wirklich, wirklich etwas Anderes will, lässt der Grossteil der Chinesen es sich auch gefallen.
Die kleinen, privaten, kreativen Initiativen werden im Keim erstickt. Durch dieses eine Partei-, ein Nationalstaat-, eine Sprache-, ein Volk-, eine Aufstiegsnationgedröhn, aber durchaus auch durch die Kultur selbst, welche mit solchen Phänomenen eigentlich nicht so richtig etwas anzufangen weiss. Welcher Einfluss stärker unterdrückend wirkt, ist für mich immer noch schwer zu beurteilen. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht, dass es im Chinesischen für das Wort "Phantasie" keine wirklich entsprechende Übersetzung gibt. Der Ausdruck "想象 = xiang xiang" drückt lediglich so etwas wie die Abstraktion, das denkende Übertragen ins Symbolische aus. Immerhin habe ich letzthin auf einer Werbung auch das Wort "创想 = chuang xiang" gesehen, welches ich nicht einmal im Wörterbuch gefunden habe, was aber wohl soviel wie "Neues erdenken" bedeutet. Wie gesagt, immerhin ein kleiner Keim, auch wenn es sich dabei um eine Werbung für Outdoor Material gehandelt hat. Wobei diese Art von Outdoor Gedanken an sich schon etwas total Neues ist hier.
Während fast jeden Europäer regelmässig so eine Art Klaustrophobie befällt, wenn man bei jedem Versuch, am Wochenende etwas freie Natur zu finden, kläglich versagt, und immer wieder auf mehrere tausend Spaziergänger trifft scheinen die Chinesen doch eher dieses soziale, laute Zusammensein in der Natur zu suchen, als eben die stille Erholung alleine. Um die Estates gibt es meistens Mauern, so dass man in die umliegenden Hügel und kleinen Wäldchen, falls es überhaupt welche gibt, meist gar nicht kommt (immerhin erübrigen sich bisher noch die Kalaschnikow bewaffneten Scharfschützen zur Bewachung). Um jede Stadt, um jedes Dorf herum gibt's zuerst mal kilometerweise Felder, durchbrochen mit Abfallhalden. Als einziges Refugium zum Spazierengehen eben die überfüllten Parks.
Hier fehlt ganz einfach auch der Platz für Menschenrechte und Individualismus nach westlicher Vorstellung. Das ist wohl auch der Grund, weshalb der Konfuzianismus die soziale Harmonie als oberstes Prinzip setzt, wieso der Buddhismus die Freiheit in der Introspektion sucht und wohl auch wieso Deng Xiaoping damals 1989 erklärt hat, dass das Leben einiger verzweifelter idealistischer Studenten nicht die Stabilität und die Hoffnung auf materielles Wohl des ganzen Landes aufwiegen kann.
Die obengenannte Parole 创想 ist nämlich momentan damit verbunden, dass die, die sich's leisten können mit modernen Outfits und SUWs in die verlasseneren Provinzen des Landes fahren und dort ihren Individualismus ausleben. In der chinesischen Alltagsumgebung ist das schlicht unmöglich. Mit solchen Abenteuern haben nicht zuletzt die Westler angefangen. Vereinzelte Globetrotter. Ob das aber immer noch den westlichen Vorstellungen von Entdeckungsgeist und Nachhaltigkeit entspricht, wenn tausende dem Ruf folgen, ist eher fraglich. Und schon landet man wieder dabei, wie weit wir mit unseren europäischen Gehirnen überhaupt beurteilen und anprangern können, was hier geschieht. Vielleicht entgegnet die chinesische Regierung eben gerade diesem westlichen Unvermögen, die asiatischen Dimensionen zu verstehen und verstehen zu wollen immer wieder mit der Parole "das ist eine Innerchinesische Angelegenheit". Wenn sich dann im Innern Chinas doch einige vom westlichen Freiheitsgedanken früher als opportun anstecken lassen, müssen sie in ebendiesen verlassenen Provinzen unter weitaus weniger angenehmen Bedingungen dafür büssen.
Und doch darf man sich heute schon weitaus mehr anstecken lassen als noch vor 10 Jahren. Es gibt auch in NGOs, welche (zwar nach mehr oder weniger langen Marathonläufen der Bürokratie) von der Regierung anerkannt werden und welche sogar immer mehr auch von der Regierung unterstützt werden, wenn letztere sich nicht in der Lage sieht, gewisse Lagen selbst zu meistern. Zum Beispiel war die Erdbebenkatastrophe in Sichuan der Ausgangspunkt von vielen erfolgreichen Privatinitiativen. NGOs, welche sich an der ersten Katastrophenhilfe beteiligt haben, welche aber auch im nächsten Schritt durch "grassroot communities" den Wiederaufbau in vielen Dörfern erst möglich gemacht haben und machen. Wahrscheinlich müssen solche Modelle zuerst vorsichtig erprobt werden, bevor sie sich langsam im gesamten Gesellschaftsmodell ihren Platz suchen. Damit eben der chinesische Weg möglich wird und nicht nur das rebellische Ausbrechen mit schnellen Autos aus zu engen, überbevölkerten Strukturen. Mit den Konsequenzen, wenn Menschen mit zuviel Individualismus und Möglichkeiten nicht zurecht kommen kämpfen wir schliesslich auch im Westen. Aber im Westen sind es eben auch Individuen und Gruppen, welche von freien Möglichkeiten Gebrauch zu machen wissen, welche die Gesellschaft immer wieder vorwärts bringen. Dieses Gleichgewicht muss China für sich erst finden.

Too big - 太大 - Dimensions I

Shoppingbummel im Pearl River Delta. Da muss man erstmal mithalten können.
Will man Tee kaufen, kann man in Guangzhou auf den Tea Market gehen. Der besteht aus sehr wahrscheinlich über tausend (wenn nicht mehreren tausend) verschiedenen Geschäften, die bis auf wenige Ausnahmen fast alle dasselbe anbieten und wo in jedem Geschäft mehrere, teils gelangweilte, teils freundlich lächelnde Damen und Herren warten. Auch andere Güter werden hier in "Markets" verkauft. Da gibt es den Leather Market, den (faked) Watch Market, den Western Clothes Market, den Pearl Market, den Silk Market, den Electronics Market... Und auf jedem Markt dasselbe Bild. Tausende von Ständen oder Läden, bei denen man von aussen nicht beurteilen kann, auf was sie sich denn spezialisieren, falls sie dies überhaupt tun. Man kann eher von identischem Angebot sprechen.
Auf die Spitze getrieben fand ich dieses Konzept letzthin, als ich an einer grossen Strasse aus dem Bus stieg und gleich daneben ein Typ auf einer Plastikdecke ausgebreitet einige Tigerkrallen und -pfoten ausgebreitet hatte. Schlimm genug, aber von diesen Typen gab's auf den nächsten zweihundert Metern noch acht weitere.
Man fragt sich immer wieder, wie die denn alle überleben. Aber offensichtlich rechnen all diese Geschäfte immer mit der Masse. In einer Stadt mit 20 Millionen Einwohnern wird ja wohl irgendwann mal einer vorbeikommen, der etwas kauft.
Man spricht ja immer so sehnsüchtig vom verlockenden chinesischen Binnenmarkt, wo der Konsumboom noch in greifbarer Zukunft liegt. Jede westliche Marke, welche etwas auf sich hält, fühlt sich verpflichtet, in China präsent zu sein. Auch wenn auch diese Läden meist leer sind. Rechnen auch all die westlichen Firmen damit, dass bei 1.3 Milliarden Einwohnern ja irgendwann mal einer vorbeikommen muss, der etwas kauft?
Schaut man sich die jeden Tag neu aus dem Boden gestampften Immobilieninvestitionsprojekte von Näherem an, so stellt man fest, dass keine dieser etwas besseren Siedlungen zu mehr als 30% bewohnte Wohnungen vorweisen kann. Noch etwas krasser ist die Situation bei den noch etwas teureren Villenquartieren oder den Büro- und Geschäftsblöcken. Dazu reicht dann offentlich die Kaufkraft des Grossteils der Bevölkerung halt doch (noch) nicht. Und doch wird in unserem Estate, seit wir hier sind, fast jede Woche ein neues Geschäft eröffnet, steht man, wenn man abends mit dem Taxi aus der Stadt nach Hause fährt, erst mal im Stau. Normal? In Paris, London oder sogar dem klitzekleinen Genf steht man ja schliesslich auch regelmässig im Stau. Aber da kann man wenigstens davon ausgehen, dass schon alle, die mit dem Auto fahren wollen, das auch tun und schon ein oder sogar mehrere Autos besitzen. In China aber leben immer noch über 70% der Bevölkerung auf dem Land. Da können sich die meisten oft noch nicht einmal ein Fahrrad kaufen. Und auch unter den restlichen 30% der Stadtbewohner können sich noch lange nicht alle ein Auto leisten. Und jetzt schon Stau?
Alles ein paar Dimensionen zu gross? Alles eine Spur zu schnell?
Während bei uns die Autoindustrie zu darben scheint, haben sich fast alle meiner langjährigen chinesischen Freunde inzwischen ein Auto gekauft. Obwohl sie noch längstens nicht zu den oberen 10'000 (oder hier wohl eher zu den oberen 1'000'000) gehören. Und auf einmal, wenn es sich um Freunde handelt, wenn Namen hinter diesen wie sie bei uns beschrieben werden "konsumwütigen Chinesen" stehen, wird alles so verständlich. Klar, dass sie wie wir auch am Wochenende mal in die Hot Springs fahren wollen. Klar, dass sie am Samstag gerne mal der Grossstadt entfliehen wollen und zum Meer oder ins Hinterland wollen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind diese Dinge nicht zu schaffen. Dafür ist das Netz einfach zu schlecht ausgebaut. Aber die Regierung steckt ja jetzt bekannterweise Milliarden in Infrastrukturprojekte, damit es vielleicht doch noch möglich wird, die Entdeckungs- und Konsumgelüste des immer grösser werdenen Mittelstand zu stillen. Im Wallis wird, seit ich lebe, an ein paar Kilometern Autobahn durchs Rohnetal herumgestritten und Stückchen für Stückchen gebaut. Hier entsteht innert kürzerster Zeit eine neue Eisenbahnstrecke, eine neue Schnellstrasse quer durch Wohngebiete oder freie Natur. Egal. Das Gute daran ist, dass das Ganze sowieso so schlecht gebaut ist, dass es dann auch einfach wieder abgerissen werden kann. Somit sind dann auch die Infrastrukturinvestitionsprojekte der Zukunft gesichert. Abgerissen wird hier nämlich fast so oft wie gebaut. Und nicht nur historische Denkmäler. Wieso soll man für die Ewigkeit bauen, wenn man die Bauten gerade jetzt braucht und die Ewigkeit als Konzept gar nicht wirklich existiert.
Nachhaltigkeit scheint auch nur propagiert zu werden, weil das Ganze sich zu verselbständigen scheint und man keine Möglichkeit mehr hat abzuschätzen, ob eben das Angebot schneller wachsen wird als der tatsächliche Return on investment, wenn sich das Angebot niemand leisten kann, oder ob die Gelüste so schnell wachsen, dass man mit dem Angebot nicht mehr nachkommt.
Wenn ich von hier aus die politischenDebatten in der Schweiz verfolge, kommt mir manche schon jetzt nach nicht einmal einem Jahr hier sehr skurril vor. So meilenweit von den hiesisgen Denkmustern, von den hiesigen Problemen, vom Entwicklungsstand und ganz einfach von den chinesischen Dimensionen entfernt. Fast noch seltsamer wird es dann, wenn man Artikel über China liest. Die sind nämlich dann aus derselben kleinen, europäischen Perspektive geschrieben.
Aber mit diesen Augen kann man China nicht erfassen. Ich merke es ja immer wieder daran, wie schwierig es ist, diese Beiträge zu schreiben, ohne mich immer wieder zu verstricken und auf übernommene Platitüden herabzulassen. Vorurteile und Schemen, welche man von hier aus einfach nicht bestätigen kann. Es ist so schwierig dieses Land in Worte zu fassen. Immer wieder entgleitet es einem, wenn einem beim Schreiben einer These schon wieder mögliche Beispiele für eine Antithese einfallen.
In Europa gibt's in jedem Kaff Ortsschilder und Hinweisschilder wie weit es bis zum nächsten Kaff ist. Und jeder weiss, welches Autobahnstück im 2015 fertiggestellt werden wird. Die meisten Chinesen, auch die gebildeteren, können auch die rudimentärsten geographischen Karten nicht lesen und wissen auch nicht, wo sie durchfahren, wenn sie im Reisebus zum Ferienresort sitzen. Auch für sie ist das Leben, welches sie seit rund 60 Jahren zu erobern im Begriffe sind immer noch einige Dimensionen zu gross.
Was morgen passiert, ist alles offen.

Sonntag, 22. März 2009

Wen hua 文化 - Culture II


Letzthin stand ich an einem Bankomaten, an dem ich üblicherweise Geld hole, und wollte wie gewohnt diesen Vorgang wiederholen. Da gab es aber auf einmal keine Taste oder Aufforderung zum Geldabheben mehr. Ich habe es mehrmals versucht und sogar schon daran zu zweifeln begonnen, dass es überhaupt irgendwann so eine Taste gegeben hatte. Nichts. 
Das war das erste Mal, wo ich bewusst ein westliches technisches System mit asiatisch kultureller Anpassung erfahren habe. Wo bei uns der Benutzer schon von weitem darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Automat heute aus irgendeinem Grund kein Geld ausspucken wird, möchte man hier den Kunden nicht davon abhalten, es zu probieren, wenn er doch unbedingt möchte.
So würde einem hier auch niemand sagen, dass man da und da nicht hingehen soll, weil es da das, was man sucht, gar nicht gibt. Wenn das Gegenüber doch unbedingt dahin möchte, will man dem auf keinen Fall im Weg stehen. 
Ist das denn schon Ausdruck eines kulturellen Unterschieds? Wie lassen sich kulturelle Differenzen erfassen, charakterisieren? Was versteht man denn eigentlich unter dem Begriff "Kultur"? Das, was seit Jahrhunderten (oder gar Jahrtausenden) in einem Volk überliefert ist? Was man tagtäglich um sich herum sieht? Was die Mehrheit des Volkes ausmacht? Was der herrschende Adel sich einst geleistet hat? Oder was die intellektuelle Elite und die sogenannten Kulturschaffenden als solche legitimiert?
Je nachdem fällt das Urteil anders aus. Hier in China ganz besonders.
Momentan läuft in Guangzhou (und wahrscheinlich auch anderswo) eine grosse Werbeaktion mit der Parole "创建全国文明成市 = chuang jian quan guo wen ming cheng shi". Was mehr oder weniger heisst "Lasst uns im ganzen Land unsere Städte zivilisieren!".
Da wird es doch spannend, was denn die Chinesen nun unter "文明 wen ming = Zivilisation" verstehen. Kein Spucken, kein Drängeln, Schwangeren den Platz im Bus freimachen...? Das käme ja unseren westlichen Ansprüchen durchaus entgegen. Oder ist da ebenso gemeint "nicht widersprechen", "Vorbilder möglichst gut kopieren", "hart arbeiten und Reichtum aufbauen"? Was hingegen in gewisser Hinsicht durchaus auch den traditionellen chinesischen Idealen entspräche, zumindest laut heutigem Volksmund und Regierungspropaganda.
Das Aufbauen materiellen Wohlstandes wiederum könnte man durchaus auch als Leitbild der westlichen "Kultur" verstehen. Wobei sich dann die obengenannten Kulturschaffenden und Intellektuellen sicher zu Wort melden würden (eben widersprechen würden), dass das doch noch lange keine Kultur ausmacht. Aber auch im Chinesischen wird diese Art von Kultur nicht als 文明 bezeichnet, sondern als "文化 = wen hua". Und als Leute, die 文化 haben, bezeichnet man solche, welche sich eben in den traditionellen Werten, aber auch Künsten, literarischen Werken und "Wissenschaften" auskennen. Eben Gebildete, aber auf chinesische Art. Was aber nicht unbedingt heissen muss, dass sie sich nicht auch für andere Kulturen interessieren können. Aber eben nicht Intellektuelle im westlichen Sinne. 
Aber was hat denn das alles mit den Bankautomaten zu tun?
Wichtig wird das genaue Artikulieren, Erfassen, ja Quantifizieren der kulturellen Unterschiede, wenn man neue Systeme einführen will. Seien es eben vorprogrammierte Bankomaten, neue Produkte oder auch Managementsysteme. Wichtig ist es aber auch, wenn man fundierte Kritik an diesem Land anbringen will. Eben dann müsste man sich mit diesen verschiedenen Interpretationen von Kultur und 文化,文明 und Zivilisation ausandersetzen.
In Betracht zu ziehen ist im Fall von China aber nicht nur die Differenz der Kulturen, sondern fast stärker noch die Absenz von Kultur. Teils bedingt durch die durch das eigene Volk verursachte Zerstörung der Kultur, teils durch den wirtschaftlichen Entwicklungsstatus des Landes. Wer ums Überleben oder zumindest um die bessere Zukunft seiner Kinder kämpft, hat mit Kultur und Werten meist wenig am Hut. 
Das ist die Zweischneidigkeit des Schwerts. Einerseits kann man den grossen Anteil der kulturlosen Bevölkerung so formen, wie man es möchte, sei es zu guten Konsumenten von (westlichen) Produkten, sei es zu hörigen Anhängern des Systems, der Partei. Andererseits erleidet aber gerade die Spannung zwischen den Kulturen, das Spannende der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und der eigenen, einen enormen Verlust. Das macht es für China dann auch schwer, wenn nicht gar unmöglich, einen wirklich eigenen, in sich schlüssigen Weg zu gehen. Einen Weg, der unserer Kultur so völlig entgegengesetzte Alternativen aufzeigt wie damals, als die chinesischen Kulturprodukte noch monatelang über die Seidenstrasse nach Europa getragen wurden.
So war der Bankomat vielleicht auch kein Ausdruck chinesischer Höflichkeit, sondern einfach wieder einmal ein schlecht programmierter Apparat...