Freitag, 4. Juni 2010

头痛医脚 - Wenn der Kopf schmerzt, behandle den Fuss - Culture IV


Ich bin in der letzten Zeit mehrmals darauf hingewiesen worden, dass mir wohl China, das Land für das ich angeblich solch grosse Begeisterung empfunden hatte, nicht mehr so sehr gefällt. Die Bemerkung hat mich sehr beschäftigt, zu beantworten ist sie aber nicht so einfach. Dazu muss ich zu einem längeren und vielleicht etwas zu abstrakten Diskurs ausholen.
China ist keine Karibikinsel, die man einfach nur toll finden kann und von der man sich höchstens nach etwas Strandüberdosis gelangweilt abwenden kann. China ist eine ständige Herausforderung. Und wenn man einmal angefangen hat, sich ihr zu stellen, lässt sie einen nicht mehr los, ob man es will oder nicht.
Am Anfang hat mich China fasziniert durch die grundlegend verschiedene Kultur. Vor allem in Bezug auf die Philosophie, die Schrift und die Medizin. Diese sind ja nun mal nicht nur einfach verschieden, sondern man kann das schon eher als "orthogonal" zu unseren Systemen bezeichnen.
Mit orthogonal bezeichnet man in der Mathematik linear unabhängige Systeme und in der analytischen Chemie z.B. zwei Trennmethoden, welche derart verschieden sind, dass sie über dieselbe Substanz grundlegend verschiedene Aussagen machen können. Und so sticht der chinesische Arzt einem Kopfwehpatienten Nadeln zwischen die Zehen oder behandelt etwa die Nieren, wenn ein anderer Ohrensausen hat. Wenn das mal nicht orthogonal zur westlichen Schulmedizin ist, um ein und dieselbe Substanz, nämlich den menschlichen Körper zu heilen.
Und so fasziniert umgekehrt auch unser Unvermögen, diese Art der Medizin mit unserem Denken zu fassen. Wieso sonst würde man klinische Studien nach westlichem Schema anlegen, um die Wirksamkeit der TCM zu untersuchen? Studien, wo alle Parameter, von der zufälligen Wahl der Patienten bis zur statistischen Auswertung der Daten, einem rein westlichen Denken entspringen. Dazu können chinesische Ärzte nur den Kopf schütteln. Das kann ja nicht gehen, wenn zwei Systeme eben linear unabhängig und nicht nur etwas verschieden sind.
Oder ganz allgemein das Konzept des Yin und Yang, welches so gar nicht in die theologischen Dispute und die Dialektik unserer abendländischen Geschichte hineinpasst.
Und so kommt man mit diesen westlichen Schemen und einer Menge Illusionen im Kopf hierhin und nimmt sich vor, diese Kultur verstehen zu lernen und mit ganz neuen Ansätzen zur Lebensbewältigung wieder nach Hause zu gehen. Was man dann findet, ist ein gigantisches Land, mit einer gigantischen Geschichte und einer gigantischen Bevölkerung, welches seit rund 100 Jahren sozusagen die Quadratur des Kreises versucht, nämlich seine Kultur der westlichen anzugleichen, um materiellen Wohlstand zu erlangen. Was den Konflikt zwischen 5000 Jahren YinYang und 2500 Jahren "atomistischem Materialismus" und Bibel faszinierend macht, macht den Kontrast zwischen einer demokratischen, "arrivierten" Wohlstandsgesellschaft und einem totalitären, überbevölkerten, nach wie vor unterentwickelten, aber voll im Aufbruch befindlichen Land überwältigend und frustrierend zugleich.
Und irgendwie extrapoliert man dann dieses chinesische Extrembeispiel auf die anderen Entwicklungsländer. Und man fragt sich, ob denn Entwicklungshilfe, wie wir sie verstehen, überhaupt funktionieren kann, wenn eben die "zu Entwickelnden" so gar nicht das gleiche Denken und die gleiche Geschichte haben wie wir. Technischer Fortschritt und Innovation ist für uns schwer vorstellbar ohne die zugehörige gesellschaftliche Konstellation. Das machen Wissenschaftshistoriker noch so klar. Aber heisst entwickeln somit unausweichlich auch andere Werte und Lebensarten zugunsten der westlichen aufgeben?
Doch nach einer Weile muss man sich wiederum fragen, ob unsere "Werte", auf welche wir uns so viel einbilden, wirklich so stabil sind, dass wir auch in weiter Zukunft die Oberhand haben werden, d.h. dass weiterhin Westler als gutbezahlte "technical Experts" in alle Welt geschickt werden und die andern nur immer unsere Systeme kopieren.
Noch ist es so. Noch sind wir Westler erfüllt mit diesem Überlegenheitsgefühl. Sowohl die altruistischen Entwicklungshelfer, als auch die profitsuchenden "global Players". Denn sowohl bei der Einführung von Trinkwasserbrunnen in tropischen Dörfern, als auch beim Aufbauen von Industrieanlagen sind wir davon überzeugt, dass wir etwas Besseres sind oder zu bieten haben. Schlussendlich sind auch Antikorruptionsaufklärungskampagnen, sowie das Pochen auf geistiges Eigentum oder universelle Menschenrechte nichts anderes als unsere Ansicht von "Fortschritt".
Aber es gibt auch Anzeichen, dass es in Europa (und in den USA) nicht mehr so rosig ist. Implizit bedeutet das aber auch, dass es den Chinesen, wenn sie mit dem Kopieren bis zuletzt Ernst machen würden, früher oder später ähnlich ergehen würde, weil dann eben die Grenzen unseres Systems erreicht sind. Die Gefahr ist gross, dass sie die Grenzen sogar noch viel früher erreichen werden, denn unsere Systeme (im übergeordneten Sinn) sind nicht auf die Bedingungen ausgelegt, mit denen diese Nation zu kämpfen hat.
Deshalb fragt man sich tagtäglich, ob sie wirklich je unseren Lebensstandard erreichen können, solange sie doch ganz anders denken und handeln und grundlegende Systeme und Theorien, auf denen eben unser technischer und gesellschaftlicher Fortschritt basiert, nicht verstehen und umsetzen können.
Aber genauso oft fragt man sich, wieso sie denn diesen so total anderen geographischen, demographischen und entwicklungspolitischen Herausforderungen nichts anderes, eben "orthogonales" mehr entgegenzusetzen haben, sondern nur schlechte Kopien der westlichen Erfindungen.
So möchte man eigentlich gerne herausgefordert werden durch ganz andere Denkstrukturen und Systeme, wie eben einst TCM und YinYang, aber den heutigen Herausforderungen angemessen, damit man auch das Gefühl hätte, davon profitieren zu können, um unsere eigenen Gesellschaftsprobleme anzugehen. Aber wirklich Bewundernswertes ist mir nicht oft begegnet in letzter Zeit.
Es werden Antikorruptionskampagnen geführt, ohne ein unabhängiges Rechtssystem aufzubauen. Das ganze Land wird nur nach BIP gemessen, obwohl sie sich damit die gesamte Umwelt mehr als zerstören und sich die Arm-Reich-Schere in einem gewaltigen Ausmass in nie gekannter Geschwindigkeit aufreisst. Sie nennen sich kommunistische Partei, obwohl es wohl kaum etwas Unkommunistischeres gibt als die chinesische Gesellschaft, ausser vielleicht die Bespitzelung, Zensurierung und Einschüchterung der Bevölkerung und der allgegenwärtige schlechte Geschmack.
Das ist es, was in meinen Berichten vielleicht meine Enttäuschung und Abneigung durchblicken lässt, und was das Leben eines Westlers manchmal hier so schwer macht. Aber gleichzeitig ist da eben auch das Gefühl, sich nicht so einfach davon abwenden zu können. Denn auch wenn China gegenwärtig vielleicht noch keinen spirituellen oder technologischen Gegenpol zu unseren "Errungenschaften" bringen kann, so sind seine Dimensionen und die entsprechenden Herausforderungen doch so gross, dass sie uns beeinflussen und noch beeinflussen werden. Und ich bin nicht sicher, dass wir für die "umgekehrte" Quadratur des Kreises besser gewappnet sind.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Danke Daniela für deine tiefen Ansichten und Einsichten die uns als Aussenstehende ein ganz ganz klein wenig über den Zaun blicken lassen.

LG aus dem Wallis

Heri