Samstag, 14. Februar 2009

Tai Ji Quan - Culture I


Einer der grossen Höhepunkte jeder Woche hier sind die Stunden mit unserem Taijiquan (太极拳) Meister Liu JunTao. Den ganzen Rummel des Alltags vergessen und sich nur auf die langsamen, fliessenden Bewegungen konzentrieren. Auf die Ruhe, die dieser Mensch ausstrahlt, in seinen weichen, präzisen und synchronisierten Bewegungen. Wunderschön. Wenn der Meister die Bewegungen ausführt und vorzeigt, hat man das Gefühl, dass diese gar nicht anders möglich sind, so selbstverständlich scheint einem der Ablauf. Wenn man es dann aber selbst nachmachen soll, ist die Vollendung leider noch ein gutes Stück entfernt. Dann heisst es, immer wieder üben, üben, üben. Immer wieder zusehen und versuchen, dem Können des Meisters ein wenig näher zu kommen. 
Zuerst versucht man, die Sequenz überhaupt durchspielen zu können, sich die Abfolge zu merken und die Bewegungen ausführen zu können. Danach wird jede einzelne Bewegung nochmals durchgenommen und korrigiert.
Taijiquan wird hier als Technik gelehrt. Jede der Bewegungen muss mit möglichst hoher Präzision ausgeführt werden. Die Winkel der Füsse, die Höhe der Arme, der Zeitpunkt der Drehbewegungen, alles muss stimmen. So wie man die Bewegungen zum ersten Mal korrigiert, kann man sie wohl noch etliche Male korrigieren. Denn jede enthält ja wiederum mannigfache Teilaspekte. So hat jede Bewegung natürlich ihren Yin und ihren Yang Aspekt, muss die Atmung genau geführt werden, das Bewusstsein jeweils an bestimmte Punkte geleitet werden... Bei jeder Korrekturrunden sollte das Qi 气 ein wenig besser fliessen. Von allein. Nichts Esoterisches, von himmlischen Wesen Eingehauchtes, Unlogisches, sondern eine natürliche Folge von perfekten Bewegungen und Positionen, die die Stagnation aufheben, den Energiefluss begünstigen und im Notfall den Angriff eines Gegners abwehren sollen. 
Das Konzept des Qi ist im Westen unbekannt. So systematisch, wie man es aber durch gezieltes Üben und präzise Techniken erfahren kann, würde es mich wundern, wenn es nicht eine physikalisch erfassbare Grösse wäre. Sie passt einfach noch nicht in unser wissenschaftliches Bild hinein.
In der alten chinesischen Kultur sollte ein wahrer Meister Poesie, Kalligraphie, Malerei, Kampfkunst und Medizin beherrschen. Aber ähnlich wie bei den alten Griechen alles zu einem Aspekt der Philosophie gehörte, so war die Beherrschung der genannten fünf Disziplinen gesteuert durch das Nei Jin 内劲, die innere Kraft. Wenn man die verstand und beherrschte, waren die fünf Bereiche nicht so weit auseinander. Auch heute noch, wird im chinesischen Denken die "Grösse" eines Menschen eben an seiner Nei Li 内力 gemessen.  So irgendwie ist das die Essenz des chinesischen Weltbildes. Diese innere Kraft oder Energie bestimmt die Einheit und den Wandel der Dinge. Ganz anders als die Vorstellung von Körper, Geist und Seele in der westlichen Kultur. Der Ausdruck "mens sana in copore sano" erhält in der chinesischen Kultur einen ganz anderen Aspekt, da sozusagen die mens gar nicht wirklich verschieden vom corpus ist. 
Das chinesische Weltbild ist wesentlich verschieden vom unseren. Aber in seiner Abgerundetheit eigentlich nicht zu ignorieren. Es könnte Auswege aufzeigen, aus vielen Fragestellungen, bei denen die sogenannte moderne Wissenschaft nicht weiter weiss. Eine Kalligraphie wird nach ähnlichen Kriterien beurteilt wie eben die Ausführung einer Taijiquan Sequenz oder sogar die Rezeptur einer chinesischen Medizin. Macht sich bei uns jemals jemand Gedanken über die Poetisierbarkeit einer Technik?
Wenn es darum geht, in China neue Technologien einzuführen, oder Projekte durchzuführen, die hier oft ohne westliche Hilfe nicht funktionieren würden (zumindest nicht in der Qualität und Geschwindigkeit und ohne Kopieren einer Vorlage) kommen wir uns oft als die grossen Entwicklungshelfer vor, die alles besser können. Die mit dem grossen Vorsprung. Wenn man sich dann aber mit solch einem Gong fu (工夫) Meister konfrontiert sieht, scheint einem die westliche Kultur auf einmal lächerlich einseitig und unvollendet. 
Schade nur, dass diese grossartige Seite der chinesischen Kultur bei der jüngeren Generation der Chinesen auch in Vergessenheit zu geraten droht.

Quadratmeterpreis in unserem Wohngebiet: 8500 RMB
Busse für ein zweites Kind für ein Paar mit Wohnsitz im städtischen Gebiet: 100'000 RMB

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