Dienstag, 16. Dezember 2008

排队 Pai dui - Zeithorizonte


Der Zeitbegriff, oder vielmehr die Organisation der Zeit, ist für mich immer wieder einer der frappantesten Unterschiede zwischen der westlichen und der chinesischen Kultur. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Chinesen fast nur im imminenten Augenblick leben. Das hat Vor- und Nachteile. Wenn man (wie wir zum Glück) zu den besser Gestellten gehört, trifft man auf so Phänomäne, wie dass man völlig ohne Rendez-vous zum Friseur, zum Arzt, zur  Zahnhygiene oder abends um 23 Uhr noch zur Massage gehen kann und auch gleich dran kommt. Dinge, auf welche man bei uns Stunden bis gar Monate warten muss. Herrlich!
Hat man aber Pech und muss man mal einen "normalen" Dienst in Anspruch nehmen, kann einem endloses Warten blühen. Letzthin habe ich auf der Post zweieinhalb Stunden verbracht, um ein Paket abzuholen und 2 weitere Paketchen zu verschicken. Eine Frau, die zur Schwangerschaftskontrolle ins Spital geht, ergattert sich da morgens um 7 Uhr eine Nummer und wartet dann quasi den ganzen Tag im Spital, bis sie vielleicht um 4 Uhr nachmittags dann endlich drankommt. So etwas wie Rendez-vous ist eben auch hier unbekannt. Dieses Phänomen heisst auf Chinesisch "排队 Pai dui = line up". An manchen Orten, wie eben der Post oder dem Spital kann das durchaus als wohl besterhaltenes Überbleibsel aus dem sozialistischen System genommen werden. Meist aber ist es vor allem Ausdruck eben dieser Lebensart im Augenblick und der doch etwas unterentwickelten Fähigkeit zu organisieren und zu planen. Als Fortschritt kann ich immerhin verzeichnen, dass heute das pai dui doch meist tatsächlich einer Schlange gleicht und nicht mehr einer riesigen, drängelnden Menschenmasse, was man dann auch eher als "挤 ji = push, squeeze, force one's way in" bezeichnet.
Wobei wir wieder einmal bei der Sprache wären. So kennt das Chinesische keine Zeiten oder Konjugationen. Meist verschmelzen sogar Nomen und Verben, manchmal auch Adjektive. Obengenanntes "ji" kann nämlich sowohl für "squeeze, push, force", als auch für "a crowd" oder eben "crowded" stehen. Und ob es morgen crowded sein wird oder gestern crowded war, wird nur z.B. durch Zugabe von "明天挤 ming tian ji = tomorrow crowded" oder "昨天挤 zuo tian ji = yesterday crowded" untermalt. Auch wenn die Chinesen dieses Fehlen der Zeiten im Englischen meist weiterführen und dies da oft zu Missverständnissen führen kann (Yesterday I come to your home), sind diese Unterscheidungen im Chinesischen doch meist gewährleistet und ziemlich eindeutig.
Schwieriger wird's dann aber mit dem Konjunktiv. Der wird dann eben im Chinesichen auch wieder durch Zugabe von Wörtern wie "可 能 ke neng = maybe" ausgedrückt, welche dann ins Englische übernommen jeden Westler auf die Palme bringen. Nur scheint es in diesem Fall auch die Chinesen an die Grenzen zu bringen. Imaginäre oder extrapolierte Räume sind für sie offensichtlich äusserst schwierig zu fassen. Unsere ständigen Fragen, was sie denn "im Allgemeinen" in "solch einem Fall" machen würden, stossen meist auf ziemliches Unverständnis und enden in dementsprechend verwirrenden Antworten. Ebenfalls, wenn man auf der Strasse jemanden fragt, ob denn da und dahin ein Bus fährt, mit dem Gedanken spielend, nächsten Monat eventuell einen Ausflug dahin zu machen. Denn der Gefragte will gleich aufstehen und seine Kollegen und Verwandten zusammentrommeln, um uns die Fahrt (auch ohne Bus) gleich jetzt zu ermöglichen. 
Wobei wir auch wieder einmal bei einem der vielen Gegensätze wären. Denn die ganze chinesische Kultur, die Medizin, das Essen, die Kampfkünste, Tai Ji, Qi Gong etc. streben nach maximaler Lebensverlängerung. Aber eben wohl nach einem langen Leben bestehend aus lauter spontanen Augenblicken. 
Da wieder frage ich mich immer wieder wie diese riesigen Projekte wie die chinesische Mauer, der grosse Kanal zwischen den Yangtse und dem Gelben Fluss oder letzthin auch das Bird's Nest ermöglicht werden konnten. Aber es bleibt uns ja noch etwas Zeit, um das rauszufinden.


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