Donnerstag, 4. Dezember 2008

Gegensätze - Bijiao II


Als ich in der Primarschule war, wurde uns in regelmässigen Abständen immer wieder einer dieser Jugenddokumentarfilme vorgeführt. An einen kann ich mich besonders erinnern. Der hiess "Wallis - Land der Gegensätze". Da wurden alte Frauen gezeigt, die auf ihrem Rücken schwere Heuballen schleppen mussten, dann der Schnitt zu den Skistationen und der Herstellung von künstlichen Rubinen. Ob sie die Chemieanlagen gezeigt haben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Das war in den späten 70er Jahren, aber irgendwie muss ich hier immer wieder an diesen Film denken....
Da sind schon mal die augenscheinlichsten Gegensätze zwischen den neuen Reichen in ihren verdunkelten Prosche Cayennes und den Armen vom Land in ihren Gummischuhen auf klapprigen Fahrrädern.  Über diese soziale Kluft und ihre eventuelle Sprengkraft wird ja auch in den westlichen Medien immer wieder berichtet. Aber da sind auch eine ganze Reihe anderer Gegensätze und Widersprüche. Aber vielleicht ist es auch wieder nur so, dass diese Dinge nur uns so inkohärent erscheinen und die Chinesen dadurch überhaupt nicht irritiert sind. Und manches sind auch ganz einfach nicht bestätigte Vorurteile, die sich irgendwann mal bei uns eingebürgert haben.
Jetzt zu den Beispielen:
Einerseits wird das Feng Shui, das ewig Fliessende, der ständige Wechsel zwischen Yin und Yang so hochgehalten in allen Bereichen der Kultur. Von der Kalligraphie bis zur chinesichen Medizin. Alles muss fliessen, nur keine Stagnation, nichts verstopfen, sich nicht versteifen oder ins Stocken geraten. Die Bewegungen selbst der Ältesten, wenn sie früh morgens Taiji üben, sind weich und elastisch, wie die einer Katze. Andererseits sieht man auch immer wieder die Angestellten einer Firma oder eines Restaurants vor dem Gebäude strammstehen und dem Gebrüll des Oberchefs gehorsam zuhören. Bei uns in der Firma haben die Pförtner abends tagelang "changing of the guard" geübt, um die Fahnen gebührend auf- und abhängen zu können. Militärisch aufgestellt stehen auch die Kinder der Grundschule, wenn sie montags morgens die chinesische Fahne hissen.
Der zweite Gegensatz zu dieser Liebe zum Militärischen und zum aufgedrängten Gehorsam ist dann wiederum, dass schlussendlich doch wieder jeder macht, was er will. Ich erinnere mich an die Wächter auf der Prager Burg (auch wieder in den 70er, 80er Jahren), die kaum blinzeln durften. Hier ist es nicht unüblich, dass so einen Wächter, wenn er gerade nichts anderes zu tun hat, seine Nägel mit dem Nagelclip bearbeitet, oder eines der legendären Schläfchen hält...
Jaja, die Schläfchen. Den Chinesen wird ja immer wieder Emsigkeit und Tatendrang nachgesagt, das was sie selber als "hard working" bezeichnen. Und tatsächlich schiessen die Wolkenkratzer hier förmlich aus dem Boden, kann man jeden Fortschritt eigentlich tagtäglich verfolgen. Und doch ist das Leben hier immer noch für viele wohl einiges stressfreier als bei uns (ich sage nicht einfacher! das lässt die Armut nicht zu). Hinter jedem Schalter, in jedem Pförtnerhäuschen, in jedem kleinen Restaurant, ja sogar hinter dem Bankschalter stehen minimum fünf Leute. Einer davon scheint jeweils etwas zu machen. Und jedermann fühlt sich, wenn er müde ist, ermächtigt, zwischendurch ein kleines Nickerchen zu halten, egal ob Gärtner oder Manager. Das wiederum hat dann vielleicht doch wieder mit dem "Fliessenden" zu tun. Entspannung statt Verkrampfung ist sicher besser für die Gesundheit.
Entspannung, Kontemplation, Meditation. So stellen wir uns in unserer Naivität die asiatische Kultur vor. Und man trifft diese Eigenschaften tatsächlich auch manchmal an. Ansonsten aber sind die Chinesen vor allem Adepten von emsigem Treiben, vollen Restaurants und Shopping Malls und vor allem dröhnender Musik. Manchmal fragt man sich, ob denn das ganze Volk einen Hörschaden hat. Jede Delphinshow ist auf Discolevel und im Supermarkt bläst einem von allen Seiten verschiedener Sound aus krächzenden Lautsprechern entgegen. Dass die Melodien und Ansagen nicht zusammenpassen, stört keinen. Selbst bei obengenannten morgendlichen Übungen in den Parks schleppt jede Gruppe ihre Ghettoblaster an und zieht ihr Fitnessprogramm von TaiJiChuan bis Salontanz durch, jeder zu seiner Musik. Daneben stellt sich dann noch eine Truppe auf, die mit schrillen Stimmen der traditionellen Guangdong Opera versucht, die Elektronik zu übertönen. Mit dem, was man sich im Westen unter asiatischer Spiritualität vorstellt, hat das wenig gemeinsam. 
Stellen wir uns etwas vor, was es gar nicht gibt? Oder hat es mal existiert und die Chinesen haben es in ihrem Aufholeifer nach der westlichen Kultur zum grossen Teil verloren? Manchmal scheint mir, sie merken selbst nicht, dass sie es verloren haben. Denn es gibt Leute, die einem bildhaft erzählen, wie wunderbar dort und dort die Landschaft und die Berge sind, welche schon in der Tangdynastie besungen wurden. Dass diese Aussichtspunkte heute eher von Reisebussen, wiederum ohrenbetäubender Schmalzmusik, Fastfood Nudelsuppenständen und auf dem Boden liegendengelassenen Plastiktüten der tausenden von chinesischen Touristen geprägt sind, scheint sie nicht zu stören. Manche waren an jenem wunderbaren Ort ja auch gar noch nie selber. Sie haben es nur in der Schule mal gelernt, dass eben jener Ort schon von den alten Dichtern besungen wurde und deshalb einer der grossen Höhepunkte des Landes ist. Nur manche hüten tatsächlich noch das Geheimnis der grossen alten Meister...
Über Perlen und fast verschollene Inseln der chinesischen Kultur und meine stete Suche danach hoffentlich ein anderes Mal. 

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