Den vorliegenden Beitrag habe ich vor etlichen Monaten noch in China begonnen und erst jetzt, ebenfalls mehrere Monate nach unserer Rückkehr in die Schweiz, fertiggestellt. Er dokumentiert sozusagen die Transition von der östlichen zurück in die westliche Welt.
So viele angefangene und unvollendete Gedankenfetzen kreisen auch heute noch täglich in meinem Kopf herum, mit denen ich das Gesehene und Erlebte umschreiben möchte. Sätze, in die ich mich verliebe, weil sie so schön klingen, die ich dann aber wieder fallen lasse, weil sie einer näheren Betrachtung, einer fairen Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht standhalten.
Ich bin immer wieder erstaunt, welch lange und doch so banale Artikel zum Thema China geschrieben werden. Amüsant sind vor allem die, von welchen ich zufälligerweise kurz zuvor den Quelltext gelesen habe. Nämlich meist einen kurzen Artikel in der China Daily, der offiziellen englischsprachigen Zeitung Chinas. Erstaunlicherweise steht in der "freien westlichen" Presse oftmals nicht viel mehr als im zensurierten Parteiorgan. Dass die chinesische Presse das Thema hinreichend abgedeckt hätte kann ja kaum der Grund sein, wo doch die Zensur in den vergangenen Monaten wieder merklich angezogen hat. Mangel an Recherche wegen Sprachbarrieren? Mangel an kulturellem Einfühlungsvermögen? Journalistischer Zeitdruck?
Aber es gibt auch hie und da einen Artikel, wo ich aufgrund meiner eigenen Gehversuche im Schreiben spüre wie der Schreiber versucht, sich an ein Gefühl oder ein Thema heranzutasten, welches über diese Platitüden hinausgeht. Oft kann ich erahnen, was der Autor beschreiben wollte, weil ich diese Situationen selbst noch so oft erlebt habe. Und somit fühle ich förmlich auch die Frustration des Autors, sich wohl eben ein weiteres Mal nur unzulänglich an das Thema herangetastet zu haben, der Komplexität der Sache nicht gerecht werden zu können und wieder mal nur banale Schlüsse ziehen zu müssen, weil der Artikel ja nicht zu lange sein darf.
Ich selbst habe während der zweieinhalb Jahre unseres Chinaaufenthalts die Erfahrung extremer Subjektivität von Erlebnissen und Einstellungen gemacht. Nicht nur, dass jeder dieses Land anders erlebt, je nachdem wie ängstlich, abenteuerlustig, individualistisch, anpassungsfähig oder exponiert jemand ist. Vielmehr hat sich meine eigene Einstellung zu diesem Land fast täglich, zumindest aber monatlich gewandelt. Es gibt Dinge, die ich am Anfang unbedingt beschreiben wollte welche mir jetzt aber zu selbstverständlich scheinen respektive gar nicht mehr wirklich auffallen. Dann wiederum die Faszination darüber, dass eigentlich nichts so ist, wie man es sich vorgestellt hat und wie alle bei uns es sich vorstellen. Die Faszination, dass man, auch nach Jahren und etlichen Versuchen, die Sprache zu erlernen, noch immer das Gefühl hat, sich nur um wenige Zentimeter an diese Kultur herangetastet zu haben. Alles was man sieht, erlebt oder liest muss neu interpretiert werden. Das Wort "Entfremdung" fällt mir immer wieder ein. Nämlich genau das, dass alle Bedeutungen und Werte, welche wir als implizit (das französische "valeurs intrinsèques" beschreibt dies noch schöner) erachten, sich auf einmal auflösen und völlig anders eingestuft werden müssen.
Was ich im Artikel "Culture IV" geschrieben habe stimmt insofern nicht ganz als es nicht immer nur schlechte Kopien des Westens sind welche in China realisiert werden, sondern oft auch immer wieder Neuinterpretationen. Nur braucht dieses Neuinterpretieren, dieses Sichneuerfinden halt mehr Zeit, als wir den Chinesen zugestehen wollen. Wahrscheinlich auch mehr, als sie sich selbst zugestehen wollen. Am Anfang sind es wohl nur kleine für den Unachtsamen kaum erkennbare "Verschiebungen". Eine wahre Neuinterpretation wird nicht zuletzt durch die allmächtige Präsenz der kommunistischen Partei stark behindert. Und doch gilt es gerade auf diese Verschiebungen acht zu geben, um ein besseres gegenseitiges kulturelles Verständnis zu erreichen, zumal auch die kommunistische Partei nur eine kleine Verschiebung, eine Neuinterpretation der vorherigen Kaiserdynastien ist.
Diese kleinen Verschiebungen machen sich nämlich gerade dann bemerkbar, wenn man bei der Rückkehr in die Heimat von China erzählen will und merkt, wie schnell die Daheimgebliebenen dabei abgehängt werden, wie wenig sie über diesen Teil der Welt wissen, trotz der fast täglichen Berichterstattung in den Medien. Sich wirklich über das Erlebte austauschen kann man eigentlich nur mit denen, welche selber längere Zeit in China verbracht haben. Da eben merkt man, welchen Weg der Anpassung man gegangen ist, auch wenn sie sich leise und unbemerkt vollzogen hat, auch wenn man in China eigentlich überhaupt nicht das Gefühl hatte, sich besonders angepasst zu haben, auch wenn ich behaupte, dass nur wenige Westler in ihrer Anpassung überhaupt so weit gehen wie wir es getan haben.
Landet man denn mit vielen kleinen Verschiebungen wirklich in der anderen Kultur? Oder handelt es sich nicht doch eher um eine "Transposition", wo man entweder in der einen oder in der anderen Kultur sein kann, eine Fusion aber kaum möglich ist? Was ist ein Kulturschock oder ein Culture Clash anderes, als eine zu schnelle Transition vom einen zum anderen?
Die chinesiche Kulturrevolution hat beim Versuch einer Hochgeschwindigkeitstransition quasi zum Identitätsverlust der Chinesen geführt. Die Transposition in eine durch und durch westliche Gesellschaft ist ihnen aber dennoch nicht gelungen. Und gleichermassen gelingt es auch den wenigsten Westlern, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten in China leben, sich anzupassen, sich lückenlos mit der chinesischen Kultur zu identifizieren oder zumindest sie wirklich zu verstehen. Und das hat nicht nur mit der hohen Hürde des Erlernens der Sprache zu tun.
Ich merke wie ich immer wieder versuche Assoziationen aus der Mathematik oder der Musik herbeizuziehen, um diese soziologischen und kulturellen Phänomene diskutieren, explorieren zu können, um zu verstehen, wie man von einer Kultur in die andere übergehen könnte, um eben die viel gesuchte Fusion Culture zu erreichen. Aber wie ein Stück in einer Tonart geschrieben ist und man es erst in eine andere Tonart transponieren muss, so kann man nicht gleichzeitig chinesisch und westlich denken. Genauso aber, wie es Passagen in Moll in einem Dur-Stück gibt, welche einer Komposition überhaupt die nötige Spannung verleihen, so gibt es Berührungspunkte zwischen den Kulturen, welche ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, als wenn sich eine Wertordnung immer nur um sich selbst dreht. Dies aber bedingt eine bewusste Auseinandersetzung, über anfangs beschriebene Platitüden hinweg.
Und deshalb ist es auch sicher, dass ich nicht das letzte Mal in Asien gewesen sein werde. Denn ich spüre, wie hier zu Hause der Ansporn des konstanten Hinterfragens, der ständigen Konfrontation, immer schwächer wird, wie man sich, mangels täglichem Zwang zum Benchmarking allzu gemütlich zurücklehnt und somit so manche "Neuerfindungsmöglichkeit" verpasst.