Mittwoch, 13. Oktober 2010

和谐社会 - he xie she hui - Harmonious society I


Ich bin gerade daran, einem ehemaligen Lehrer meiner Tochter einen Brief ins Gefängnis zu schreiben. Das dauert etwas, denn es muss auf Chinesisch sein. Englische Schreiben kommen nicht durch die Gefängniszensur.
Nein, er hat die Charta08 nicht unterschrieben. Wahrscheinlich wusste er, wie die meisten Chinesen, nicht einmal, dass es sie gibt. Aber er ist eines der vielen Opfer des Systems, welches eben jene Dissidenten anprangern. Deshalb möchte ich zwischendurch, aus aktuellem Anlass, seine Geschichte erzählen. Ganz naiv und chronologisch. Ich denke, die Abfolge spricht für sich und dient als Einführung in die Gegenwart des chinesischen Rechtsverständnisses.
Unsere Töchter gehen in eine Schule, wo wir zu den wenigen gehören, die ihre Kinder zu Fuss abholen und nicht im Tuareg oder irgendeiner S-Klasse vorfahren. Auch solche Eltern wollen in China nur das Beste für ihre Kinder. Dazu gehört, dass die besten Lehrerinnen ihre Sprösslinge während der ganzen 4 Kindergartenjahre betreuen. Als eine dieser Lehrerinnen kündigen wollte, weil sie anderswo ein besseres Angebot bekommen hat, hat die Elternschaft sofort aufbegehrt。
Die Schule hatte schon eine musterhafte Vorzeigestunde der Nachfolgelehrerin und ein Elterntreffen organisiert, um alle davon zu überzeugen, dass es doch ganz harmonisch weitergehen konnte. Doch da hatten sie sich geirrt. Inzwischen hatten sich 3 der Elternvertreter ausgedacht, dass diese Zustände das hohe Schulgeld doch nicht wert waren und dass man die Schuldirektion unter Druck setzen konnte, indem man dem männlichen Hilfslehrer einfach ein paar Pädophilievorfälle in die Schuhe schiebt. Man setzte Gerüchte in die Welt und holte die Presse, welche auf einmal ganz frei von irgendwelchen unzüchtigen Handlungen an diesem Kindergarten berichten konnte.
Das versetzte die Schuldirektion, welche ein Risiko für ihr Business roch, in Panik. Sie überzeugten die kündigende Lehrerin, unter Lohnerhöhung und sonstigen Versprechungen, doch noch zu bleiben. Die Lehrerin willigte sogar ein, dem Lehrer zuliebe. Dieser wurde aber dennoch am nächsten Tag von der Polizei abgeholt. Seither verlangen die Eltern 1 Million Yuan für jedes angeblich "belästigte" Kind. Aber nicht etwa vom Staat, sondern direkt von der Schuldirektion, ganz unabhängig vom Ausgang irgendeines Gerichtsentscheids.
Als Reaktion werden die Eltern der betroffenen Klasse wiederum zu einer Elterninformation eingeladen. Die beginnt mit einem tiefen Kotau der Schuldirektorin, in dem sie alle um Entschuldigung bittet. Danach folgen die Wiedergutmachungsleistungen: Die Kinder können nun jeden Freitag nachmittag noch zwei zusätzliche Phonetikstunden besuchen, die Qualität der Schulbücher (wohlbemerkt für Kindergartenkinder!) wird angeblich an eine neue australische Methodik angepasst, die Schulgelder der betroffenen Klasse wird im nächsten Semester um 20% reduziert und nicht zuletzt darf die Elternschaft einen Katalog von 5 Psychologinnen durchblättern, und nach Gutdünken eine davon auswählen, welche ihre Kinder betreuen soll. Das schien alle zufriedenzustellen. Die Anzettler der Intrige hatten ihre Kinder inzwischen sowieso von der Schule genommen und waren gar nicht mehr präsent.
Der Lehrer aber wurde in einem geschlossenen Gerichtsverfahren, ohne Zeugen, mit zugewiesenem Marionettenverteidiger, zu 2 Jahren und 10 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Aber das kümmert die Elternschaft nicht mehr. Ausser die Anstifter, welche angeblich immer noch auf ihren Forderungen beharren.
Ob die Gründe, welche ich hier aufgeschrieben habe, wie sie mir die Freunde des Lehrers erklärt haben, wirklich die einzigen sind und nicht noch andere Machtspiele hinter den Kulissen ablaufen, sei dahingestellt. Erziehung ist in China ein einträgliches Business wie jedes andere und somit auch eines mit Risiken wie jedes andere.
Die Ironie des Schicksals ist aber, dass der Lehrer aus einer armen Familie in Sichuan stammt, Rechtswissenschaften studiert hat und eigentlich nur Kindergärtner war, um sich seine Abschlussarbeit finanzieren zu können.

Monatslohn einer Kindergartenlehrerin, welche als Unterkunft mit zwei anderen Lehrerinnen ein Zimmer teilt: 1600 RMB
Monatliches Schulgeld pro Kind, um in solch einem Kindergarten, zusammen mit ca. 25 anderen Kindern unterrichtet zu werden: 4500 RMB

Dienstag, 12. Oktober 2010



Manchmal sagt das, was einen bei einem Besuch in der Heimat fasziniert genauso viel aus ueber das Land, in dem man gerade lebt...