Wie manifestiert sich denn ein Erziehungsstil später im Erwachsenenalter? Kann man wirklich Zusammenhänge sehen zwischen dem Erziehungs- und Schulwesen und der Situation des Landes? Wieso wirkt die Art von Pädagogik, wie sie in allen chinesischen Schulen betrieben wird, auf uns Westler so abschreckend?
Ein Gedanke kommt mir immer wieder und wird in vielen Begegnungen immer wieder bestätigt. Nämlich der, dass das Erziehungssystem als solches vielleicht die Massen beeinflussen kann, nicht aber die wirklich herausragenden Individuen. Bei uns sind ja auch nicht alle fähig, sich eine wirklich eigene Meinung zu bilden oder einen eigenen Geschmack zu entfalten, geschweige denn sind alle innovative Firmengründer oder subversive Künstler. Und genauso gibt es in China wiederum (wie in jedem totalitären Land) immer wieder herausragende Leute, die die Dinge hinterfragen, die einen eigenen Lebensstil entwickeln, trotz aller Umstände, die eigentlich dagegensprächen. Und das muss nicht unbedingt mit westlichem Einfluss zusammenhängen, sondern gilt ganz besonders auch für die, welche sich intensiv mit der traditionellen chinesischen Kultur auseinandersetzen, obwohl das auch nicht unbedingt von der Partei gefördert wird.
Auf der anderen Seite ist es aber schon so, dass das Erziehungssystem die Massen konditioniert. Und leider sind die Massen in China so riesig, so dass die eigenständig Denkenden in ihnen eher untergehen. Auffallend ist im Umgang mit den "einfachen" Leuten im Alltag immer wieder eine, um es blank auszudrücken, überwältigende Stupidität. Man hält es teilweise fast nicht für möglich, dass jemand so dumm sein kann. So hat man eigentlich ständig das Gefühl, dass man nie davon ausgehen kann, dass sich einer bei seiner Handlung etwas überlegt (z.B. wenn einer aus einer Nebenstrasse einfach auf die vierspurige Hauptstrasse einbiegt ohne zu schauen oder gar abzubremsen, oder wenn ein sogenannter Klempner fast das Waschbecken zerstört, weil er unbedingt das eigentlich zu dicke Abflussrohr in das Loch stopfen will).
Zum Glück gibt es aber nicht nur diese. Es gibt auch die legendären Lerneifrigen. Durch dieses ständige Üben des Nachahmens und Auswendiglernens haben die Chinesen eine ausserordentliche Aufnahmefähigkeit entwickelt. Viele Dinge, welche bei uns erst lang und breit diskutiert werden müssen und erst mal auf Widerstand treffen, werden hier einfach umgesetzt. Diese scheinbare Taten- und Umsetzungskraft ist es ja, was wir an den Chinesen so bewundern. Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass sie die Instruktionen nicht ganz zu Ende gehört haben, oder sich alle Konsequenzen richtig überlegt haben, so fragt man sich doch auch des öfteren, ob wir Europäer uns die Welt nicht manchmal zu kompliziert und umständlich gestalten, wenn es offensichtlich auch so einfach geht.
Auf der anderen Seite sind diese Leute aber auch äusserst ausgeliefert, wenn es sich darum handelt, von jemandem etwas eingetrichtert zu bekommen. Gleichschaltung in dem Sinne, dass man fast auf jede beliebige Frage fast dieselben Antworten bekommen wird, unabhängig davon, wen man fragt (vielleicht gerade mal abhängig vom Bildungsstand). Jeder wird einen korrigieren, dass Taiwan eine Provinz von China ist, jeder wird die gleichen vier Hauptklassiker der chinesischen Literatur zitieren, jeder wird sagen, dass es heute in China viel besser ist als vor 30 Jahren, jede Frau mit Kind ruft beim Anblick meiner Mädchen erst mal "Jiejieeeee" (ältere Schwester) und jeder weiss, dass Mao 30% Schlechtes und 70% Gutes vollbracht hat. Sprich, es ist eigentlich in den meisten Fällen ziemlich langweilig, ein Gespräch mit jemandem anzufangen. Noch dazu hat hier jeder spezielle Diskussionstechniken entwickelt, welche es ihm erlauben immer wieder auf diese allgemeinen Floskeln zurückzugreifen, um ja nichts über sich selbst preisgeben zu müssen. Aber die ständige Suche nach der Wahrheit und nach Selbstexpression ist gerade das, was den westlichen Spleen und demzufolge unser Erziehungssystem ausmacht. Die Chinesen bezeichnen unsere endlosen Diskussionen (ob bei der Arbeit oder beim Essen) meist als langweilig und sinnlos.
Welche Erziehungsart eine Gesellschaft gutheisst, hängt ja damit zusammen, welchen Zweck diese erfüllen soll, was im Leben als Ideal gilt. Und so ist es folgerichtig in einer Kollektivgesellschaft nicht so wichtig, dass nicht die Entfaltung der eigenen Individualität im Vordergrund steht, sondern eben die Identifikation mit der Masse. Andererseits offenbart sich die "reale Kollektivgesellschaft" fast schon in Analogie zum "realen Sozialismus" dadurch, dass erst einmal jeder für sich schaut und versucht, einen möglichst grossen Happen für sich zu ergattern, über die Leichen der anderen zigtausend Anonymen hinweg.
Das Ideal der Kollektivgesellschaft wurde ursprünglich vor allem als Friedensmassnahme entwickelt. Eine "harmonische Gesellschaft" sollte es ermöglichen, dass es nicht dauernd zu Streitereien und Kämpfen kommt. Und heute, bei solch einer Bevölkerungsdichte, unter den herrschenden Umständen der limitierten Ressourcen haben die Chinesen (und auch die Japaner und manche anderen asiatischen Völker) gar keine andere Wahl. So ist es auch eine ziemliche Gratwanderung, eine solch dichte Gesellschaft mit erhöhten individuellen Freiheitsgraden ausstatten zu wollen. Deshalb herrscht in China, bedingt durch die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse extremer Konkurrenzdruck mit vergleichsweise extrem niedriger Differenzierung und Positionierung. So dass man sich seinen Happen vor den anderen eben nur dadurch ergattert, indem man schneller, höher oder grösser ist, nicht aber, indem man etwas total anderes macht. Und dies wiederum wird durch das Erziehungssystem noch begünstigt. Soweit ich es beurteilen kann ist das Schulsystem in den weiter entwickelten Staaten wie Japan oder Korea nicht sehr viel anders. Nur dass diese es geschafft haben, wenigstens das politische und religiöse Umfeld einigermassen zu befreien.
So ist es auch schwierig, die verschiedenen Erziehungssysteme und ihr Potential zur Förderung des wirtschaftlichen Wohls einer Nation zu bewerten. Vielmehr reflektiert das System die Rahmenbedingungen. Und die sind bei uns in Europa ganz anders als in Asien. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Schulsysteme anders aussehen. Und deshalb ist es auch nicht ganz trivial, ein Erziehungssystem gegen das andere auszuspielen (z.B. das westliche gegen das asiatische). Jedes hat in seiner soziokulturellen Umgebung seine Berechtigung und Wirksamkeit und geopolitisch seine Vor- und Nachteile.
Eines aber ist sicher. Breites materielles Wohl und Lebensqualität sind auf jeden Fall eng verbunden mit Planungsfähigkeit. Diese wiederum hängt stark damit zusammen, mit wieviel Freiheit die "Planungsverantwortlichen" in ihrem jeweiligen Werdegang ausgestattet werden. Denn erst die Möglichkeit zur Selbstbestimmung über sein Schicksal macht Planung für einen Menschen überhaupt notwendig, falls er eben aus seinem Leben etwas machen will. Und gerade diese extrem eingeschränkte Selbstbestimmung der Chinesen während der ganzen Kindheit und Schulzeit führt dann zu einer Kultur der "last minute Improvisation" und schnellen Retuschierung von Problemen. Und darüber wird auch die grosse Vision der Partei auf Dauer nicht hinwegtäuschen können.