Montag, 3. August 2009

Lebensstile - 生活方式 - Culture III


Als wir angefangen haben Taijichuan zu lernen, hat unser Lehrer gemeint, für Ausländer sei das nicht so einfach, da einem ja das Verständnis für die chinesische Kultur fehle. Damals fand ich diese Bemerkung eigentlich beleidigend, da ich mir noch etwas auf mein hohes kulturelles Einfühlungsvermögen einbildete. Doch letzthin, als wir in einem Beethoven Klavierkonzert mit einer chinesischen Interpretin sassen, musste ich mich beim Gedanken ertappen, ob es denn für Chinesen überhaupt möglich sei, Beethoven zu spielen, ohne den "tiefen" Einblick in die europäische Kultur. Soviel zu gegenseitigen Vorurteilen. Aber sind es wirklich nur solche?
In diesem Zusammenhang kann man mal versuchen Kultur als "Lebensgefühl" anzusehen. Und dieses wiederum als die Art, wie man mit der "Condition humaine", von welcher wir alle erfasst werden, umgeht. Dass der Mensch nicht perfekt ist, weiss jeder auf der Welt. Aber wie man mit diesem Faktum umgeht, ist eben Teil der Kultur. Und verschiedener könnte dieser Umgang zwischen Asien und Europa fast nicht ausfallen.
So gehört zum Beispiel die Fähigkeit zur Selbstironie in unserer Kultur zu bewundernswerten Attributen. Wer sie beherrscht zeigt, dass er über den Absurditäten dieser Welt steht. Ebenfalls ist es auch fast eine Sache der Sympathiebekundung oder zumindest der geistigen Nähe, wenn man jemanden auf den Arm nimmt, oder wenn man ihn an einem ironischen Witz teilhaben lässt. Wenn er ihn versteht, wird er zum Komplizen des gemeinsamen Ertragens der Realität. Dieses Gefühl aber, auf diese Weise der Absurdität trotzen zu müssen hingegen, kommt nur unter der Bedingung eines monotheistischen Hintergrunds oder zumindest einer der post-monotheistischen Einstellungen auf. Der Westen ist durch die Idee eines allmächtigen Gottes oder einer universellen Wahrheit stark geprägt. Zum Finden dieser "Wahrheit" wurden im Westen die Theologie, die Dialektik und die Logik und schlussendlich die technologische Effizienz entwickelt. Um sich aber zeitweise vom Druck des Ideals, des allmächtigen Gottes, oder zumindest vom Druck des effizienzbesessenen Alltags und der ewigen Rückschläge zu befreien gibt's Feste, Parties, Bars... Implizit bedeutet das auch ein Infragestellen oder zumindest Herausfordern des Ideals, eine Huldigung and die "dark side", die teuflische Seite.
Und genau dieses "Problem" gibt es in der chinesischen Kultur nicht. Man ist nicht einem allmächtigen Gott ausgeliefert, dem man auch ab und zu die Zunge ausstrecken muss. In irgendwelchen Bars in chinesischen Städten, falls überhaupt vorhanden, sind entweder fast ausschliesslich Westler zu finden, oder sie sind, bis auf ein paar turtelnd rumsitzende Pärchen, fast leer, auch wenn das Dekor eigentlich recht cool ist. Das Nachtleben hat auf die Chinesen nicht dieselbe Anziehungskraft wie auf uns. Wer nicht unbedingt noch "businessmässig" unterwegs ist, befindet sich eigentlich nach 10 Uhr abends nicht mehr auf der Strasse (auch wenn es natürlich von den geschäftigen immer noch tausende gibt).
Die Chinesen scheinen eher einen miteinander zu heben, um damit das Harmonie- und das gemeinsame Respektgefühlt zu verstärken. Also gewissermassen als Teil des Alltags, nicht als "Flucht". Getrunken wird meist gegen Ende eines Bankettessens. Meist stossen die jüngeren mit den Älteren und Vorgesetzten als Ehrerbietung an, unter gleichaltrigen dann eher als Männlichkeitsbeweis. Dank meist relativ tiefer Alkoholresistenz finden die Trinkgelage sowieso ziemlich schnell ein Ende. Was sie danach machen, habe ich immer noch nicht wirklich herausgefunden. Höchstens vielleicht die Karaoke-Bars... Aber auch diese erfüllen nicht denselben Zweck wie unsere Bars und Tanzflächen. Die einzigen, die noch endlos und scheinbar sinnlos herumziehen müssen sind die Westler.
Das Ausruhen, Dösen, Entspannen, ja auch der gemeinsame Genuss von gutem Essen ist zwar definitiv ein wichtiger Teil des chinesischen Lebens. Es erfüllt aber meist den Zweck, seine Kräfte zu schonen oder aufzubauen für die nächste Arbeitsetappe und für ein langes Leben. Das hat aber wenig zu tun mit unserem ausdrücklichen "Sich Gehen Lassen". Genuss bedeutet bei uns meist auch bewusst in Kauf genommene Selbstzerstörung. Dass durchzechte Partynächte nicht besonders gesund sind, weiss jeder. Und doch brauchen wir sie (hin und wieder), als Kontrastpunkte im Leben, zum Abreagieren der Wirklichkeit. So wird denn auch gerade diese Seite bei uns auch als besonders kreativ bezeichnet. Die besten Ideen entstehen nicht am Arbeitstisch. Künstlerisches Schaffen entsteht (eben z.B. bei besagtem Beethoven) aus der Spannung zwischen göttlichem Ideal und der teuflischen Versuchung. Offensichtlich scheint diese Intensität aber auch zu verbrauchen. Die nach unserem Gutdünken intensivsten Künstler sind meist nicht besonders alt geworden, oder eines natürlichen Todes gestorben.
Rock'n'Roll ist aber auf jeden Fall keine chinesische Erfindung. Von westlicher Musik hat höchstens Céline Dion und Richard Clayderman hier eine Chance (mal abgesehen vom Klavierlernwahnsinn unter den Sprösslingen der Neureichen). Alles ist darauf ausgerichtet, ein gesundes, arbeitsames, erfolgreiches und langes Leben zu führen. Selbstironie oder Zynismus ist gewissermassen ein Gesichtsverlust, weil man nicht fähig ist, sich den einem auferlegten Herausforderungen zu stellen. Diese Überlebensstrategie gilt hier nicht. So wie die Idee des Beichtstuhls und der Vergebung nicht existiert, bedeutet Scheitern eben wirkliches Scheitern, und das darf man sich nicht erlauben...
Wenn man zu Hause, immer in derselben Kultur lebt, hält man alles um einen herum für so selbstverständlich. Man hat das Gefühl, man könne sich seine Werte und Philosophien selbst auswählen. Man lebt ja schliesslich in einer modernen, freien Gesellschaft. Da kann man es sich auch leisten, der Kirche den Rücken zuzukehren. Und auf einmal, in der Ferne, wo man ständig konfrontiert wird, mit völlig anderen Arten, mit dem Leben umzugehen, merkt man erst, welche Konsequenzen unsere Geschichte auf unser Denken und Dasein wirklich hat und dass unser "Lebensgefühl" eben nur eines von wahrscheinlich unzähligen möglichen ist. Und so fängt dann das Pendeln zwischen den Welten an. Die ständige Suche nach der anderen Hälfte. Hier in China bewundert man den Fluss des Lebens, den Gleichmut und das ständige Lächeln..., und sehnt sich auf einmal nach durchgetanzten Nächten, "ä liächtä ga näh" und der Freiheit, auch über die Risse im Leben in aller Oeffentlichkeit debatieren zu können. Und man entdeckt dann auf einmal Ideen wieder, von denen man sich eigentlich schon lange abgewendet hatte...
Wieso Beichtstühle und letzte Gerichte (zumindest in ihrer übertragenen Form) auf einmal wieder attraktiv werden in meiner Weltanschauung, versuche ich nach unseren Ferien in der Schweiz zu erklären.