In unseren europäischen Sprachen wird ein Buchstabe an den anderen gereiht und damit ein Wort gebildet. Ein anderes Wort wird wiederum aus einer anderen Sequenz von Buchstaben gebildet. Manchmal wiederholen sich Wortteile, um einen ähnlichen Sinn in einem anderen Wort wiederzugeben, z.B. eben "wieder" in "wiederkehren" oder "wiederholen". Zumindest können die Wörter eigentlich beliebig lang sein. Grundsätzlich verbringen Primarschüler rund 1 Jahr damit, die rund 26 Buchstaben zu erlernen. Ab dann können sie sich eigentlich, je nach Interesse, Neugier und Ehrgeiz selbständig durch die Bibliotheken durchbuchstabieren. Und wer nicht lesen kann, kann sich trotzdem zumeist eindeutig und, wie wir sagen, direkt verständlich machen. Jedes Wort hat seine ziemlich eindeutige Bedeutung und hat einen konkreten oder abstrakten Sinn.
Das Chinesische ist so ziemlich das Gegenteil. Totale Absenz von so etwas wie Buchstaben und linearem Aneinanderreihen. Vielmehr gibt es mehrere tausend Zeichen, die jeweils durch einen monosyllaben Laut ausgesprochen werden. Jedes Zeichen hat eine Bedeutung, manche sind sogear ein Wort in sich, z.B. Li 力 (Kraft) oder Qi 气 (Luft). Die meisten Wörter, wie wir sie als solche bezeichnen, bestehen aber aus 2 (oder manchmal sogar 3) zusammengefügten Zeichen, d.h. Bedeutungen, welche dann also wieder eine neue Bedeutung hervorbringen, z.B. 力气 = Li Qi = physische Kraft.
Kann man in den europäischen Sprachen potentiell jegliche Buchstabenkombinationen aneinanderreichen, um neue Wörter zu kreieren oder wenigstens auszusprechen, z.B. Mechatronik oder Rhabarber, ist die chinesische Sprache darin ziemlich beschränkt. Es gibt nur eine sehr limitierte Anzahl von möglichen Silben (Jing, Jiang, Qing, Jin, Li, Lei...). So kann man z.B. die Silbe "Ko" im Chinesischen überhaupt nicht ausdrücken, was dann dazu führt, dass ausländische Namen meist sehr umständlich wiedergegeben werden müssen, z.B. Prokofiev heisst dann eben 普罗科菲耶夫 (pu luo ke fei ye fu). Die beschränkte Anzahl der Silben wird dadurch erweitert, dass jede mögliche Silbe eben jene berühmten vier verschiedenen Möglichen Arten der Aussprache hat. (z.B. Jiang, mit gleichbleibender Betonung, Jiang mit aufsteigender Betonung, Jiang mit absteigender, dann aufsteigender Betonung und Jiang mit absteigender Betonung), welche dann jeweils eine völlig verschiedene Bedeutung haben können. Und dies ist nur der Anfang der unzähligen Variationen, die in ihrer Fülle wiederum die europäischen Sprachen völlig in den Schatten stellt. Ein Zeichen - verschiedene Aussprachen, eine Silbe - verschiedene Laute, ein Laut - verschiedene Schriftzeichen und vor allem immer wieder neue mögliche Inhalte, Konzepte, Synonyme und Bedeutungen. Im Wörterbuch werden oft die verschiedensten Zeichen und Sinnkombinationen im Englischen immer wieder gleich übersetzt, mangels entsprechendem Finetuning. Feine Abstufungen, über die sich die Chinesen, wenn sie miteinander reden oft auch erst einig werden, wenn sie eine Reihe von möglichen Synonymen abgeglichen haben und sich darüber ausgetauscht haben, welches Schriftzeichen denn nun genau zu diesem Ausdruck gehört. Eine Welt, die uns Westlern völlig entgeht und die wir nur staunend entdecken können.
Für mich ist diese Entdeckung die eigentliche Spur zum ewigen kulturellen Unterschied. Eine Sprache, die so völlig anders aufgebaut ist und so unvermeidlich auch zu völlig anderen Gehirnstrukturen und Arten des menschlichen und schlussendlich kulturellen Ausdrucks führt. Dieser Aufbau der Sprache führt dazu, dass eben nicht alles weiss sein muss, wenn es nicht schwarz ist, dass etwas eben nicht unbedingt in der Zukunft liegen muss, wenn es nicht in der Vergangenheit war, denn es gibt viel subtilere Arten, die Daseinsmöglichkeiten dazwischen auszudrücken, so dass eben die schattierten Übergänge auch erfasst werden können. Ein überspitztes Bild zur Anschauung. Für einen Europäer ist an einer roten Ampel anzuhalten, sofern einer nicht willkürlich das Gesetz zu überschreiten gedenkt. Ein Chinese sieht nicht ein, wieso er anhalten sollte, wenn doch zwischen den Autos, die von der anderen Seite kommen, immer wieder eine Lücke ist, in die sein Auto reinpasst.
Die kulturellen Auswirkungen des sprachlichen Aufbaus sind enorm und hier jeden Tag fassbar oder eben eher für uns unverständlich. Die chinesischen Kinder verbringen viele Jahre mit dem Üben und Auswendiglernen der tausenden von Zeichen. Man kann sogar sagen, dass die Zeit, die man mit dem Erlernen immer neuer Zeichen verbringen kann, ist nach oben offen. Ob hingegen das heutige Schulsystem in China den Kindern auch wirklich das Potential zur Entdeckung oder gar zur Kreation immer wieder neuer Bedeutungen, Sinne und Variationen während all dieser Jahre des "Lesenlernens" vermittelt, ist leider zu bezweifeln. Zu erfassten, versteckten und verpassten Chancen der Chinesen, die Welt neu zu interpretieren und andere Massstäbe zu setzen hoffentlich später.
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